VORSICHT: SATIRE!
Liebe Mittelhessenblogleser: Ihnen läuft klammheimlich ein Schauer den Rücken runter, wenn Sie die ganzen schwarzrotgoldenen Fahnen wogen sehen. Zwischendrin mal vereinzelt eine französische oder spanische Flagge? Ach, das war vor vier Jahren. Heimspiel. Sicher. Heute sind les Bleues ja ganz ohne sich mit Ruhm bekleckert zu haben, wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Immerhin, die deutschen Geschwister haben Rache genommen und rein vorsorglich den Erbfeind England vom Rasen gekickt. Die Rotkreuztruppe war ja vorher aufgetreten und hatte über die Presse des europäischen Inselstaats ja verbreiten lassen, die deutschen Panzer würden nun wieder rollen. Hat da jemand was von Panzer erzählt. Ist der Krieg wieder ausgebrochen? Irgendwie schon. Für die Bemerkung, das Gesellschaftsphänomen Fußball habe etwas von einem Ersatzkrieg, habe ich in der Gemeinschaft der Twitter ja schon die eine oder andere ironische Bemerkung kassiert. Aber damit steht der Kopf hinter dem Mittelhessenblog wohl in guter Gesellschaft. Denn kein anderer als der kongeniale Matthais Beltz hat in einem auf seiner offiziellen Homepage verewigten Tondokument die glasklaren Bezüge zwischen dem Phänomen Fußball und den Daten der deutschen Geschichte und dem Grund hergestellt, wieso sich die Deutschen irgendwann einmal entschlossen hatten, den WM-Titel, wenn schon nicht als Dauerleihgabe so denn doch als turnusmäßiges zustehendes wiederkehrendes Sporttribut für in früher Kindheit erlittene Völkerball-Unbill zu betrachten. Uff, der Satz wäre jetzt zuende gebracht. Auch der ein heimliches Denkmal für einen anderen großen Deutschen: Thomas Mann. Berühmt für seine über Seiten sich ergießenden Mammutsätze. Mit Fußball hatte Mann aber nichts zu tun. Zumindest ist das nicht überliefert. Dafür überraschte der Hessischen Rundfunk in seinem Kulturprogramm HR2 mit einer Hommage an den einsamen Job des Torwächters, mit Versatzstücken aus dem Gedichtwerk von Rainer Maria Rilke. Wer hätts gedacht, dass der Massensport Fußball es in den Olymp hochgeistig historisch-kabarettistisch-kultureller Betrachtungen schaffen würde.
Übrigens: Thomas Mann war kein Mittelhesse, jedenfalls nicht d e r Thomas Mann. Aber in Mittelhessen bekannt. Aber aus Mittelhessen und nicht nur in Mittelhessen bekannt, war, (leider muss man „war“ sagen). Matthias Beltz stammt aus dem hohen Vogelsberg, hat in Gießen gelebt und hat den Frankfurter Tigerpalast mitbegründet. Hier geht es zu seinen Betrachtungen über Fußball, deutsche Geschichte und überhaupt :-). Ein kleiner technischer Hinweis: Auf der Seite dann auf das Lautsprechersymbol klicken. Viel Spaß beim Hören.
Zum Schluss: Sie fragen sich, was die vier Flaggen oben sollen: Nun ja: Das allein offenbart schon das Problem, wo hin man sein Herz rein weltmeisterlich hängen sollte: Mit zwei offiziellen Staatsangehörigkeiten und zwei weiteren inoffiziellen Staatsangehörigkeiten durch die eigene Mutter und Großmutter? Da wirds schwierig. 2006 hatte ich das so gelöst. Trikoloren-Strandstuhl und Deutschlandfahne kombiniert. Aber ich bin ja sowieso kein Fußballgucker.…Insofern.…:-)
K.L. meint
Hallo,
endlich mal jemand, der dieses geniale Zitat von Beltz ausgegraben hat…war schon länger auf der Suche. Allerdings würde ich mir das gerne herunterladen, weiss aber nicht wie (auf der offiziellen Homepage ja gefunden, über rechte Maustaste tut sich nichts).
Gibt’s hier einen Tip ?
LG, 0712
H.J. Schwarzer meint
Hallo, K.L. So geht´s: Text komplett markieren, dann auf kopieren klicken und in irgendeine beliebige Textverarbeitung einfügen (z.B. MS-Word oder einfach den Windows-Texteditor)Deutschland – ein Fußballmärchen [1990]
Es war einmal ein Volk, das fühlte sich so verarscht von der ganzen Welt, daß es sich die Deutschen nannte. Schon in der Volksschule wollte niemand mit ihm Völkerball spielen.
Da beschloß das deutsche Volk in einer dunklen Stunde, Fußballweltmeister zu werden. Und so gaben sich die Deutschen eine Nationalhymne, und die hieß: Deutschland vor, noch ein Tor. Der Refrain aber lautete: Olé – olé – oléoléolé. Mit einem dreifach donnernden Hurra zog nun die deutsche Mannschaft in der 14. Minute auf das Spielfeld von Verdun. Nach einer heftigen Materialschlacht schien in der 18. Minute das Spiel verloren. Da waren die Deutschen beleidigt und verpatzten sogar ihre eigene Revolution. Nach Kleinklein-Spiel im eigenen Raum wurde in der 33. Minute der Spielführer ausgewechselt. Da freuten sich die Deutschen und stürmten wie in alten Tagen, ja, das ganze deutsche Volk schien aus lauter Stürmern zu bestehen.
So kam es denn auch in der 38. Minute zum Anschlußtreffer gegen Österreich. In der 39. Minute wurde in alle Himmelsrichtungen geschossen, so daß der Sieg bald nahe schien. Doch in der 42. Minute geriet die deutsche Mannschaft in die sibirische Abseitsfalle. Da fiel die Manndeckung aus, und der Rückzug mußte angetreten werden. In der 45. Minute schon schien das Spiel bedingungslos verloren zu sein.
Doch da kam der alte Reichstrainer Sepp Herberger und sprach: Jedes Spiel dauert aber doch 90 Minuten, also laßt uns nicht die Fehler der 1. Halbzeit diskutieren, sondern die Socken hochkrempeln und wieder tüchtig zutreten. Denn der Ball ist rund, und das nächste Spiel ist immer das schwerste. Diese Sätze wurden später von den Verfassungsvätern wieder aufgegriffen und bilden den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundgewerbeordnung.
Nun braucht aber jede Fußballmannschaft, um wirklich gut zu sein, einen Trainingspartner. Da alle sonst ausgerottet waren, holte sich die deutsche Mannschaft die Kommunisten und verdrosch sie wie in alten Zeiten. Die Kommunisten jedoch wollten selber Fußball spielen und nicht Punchingball sein. Darum gründeten sie in der 49. Minute einen eigenen Verein und nannten sich Dynamo DDR Lokomotive.
In der 53. Minute kam es zu Rangeleien im Strafraum vor dem Brandenburger Tor, so daß in der 61. Minute auf beiden Seiten stark gemauert wurde. In der 69. Minute sorgte der neue Schiedsrichter Willy Brandt für vorübergehende Entspannung.
In der 89. Minute aber stürmten plötzlich lauter Brüder und Schwestern, die bisher hinter dem großen Absperrgitter saßen, das Spielfeld. Und so fragen wir uns nunmehr: Kommt es in der 90. Minute zum Endsieg? Oder braucht das deutsche Volk noch eine Verlängerung?
Quelle: Gnade für niemand – Freispruch für alle. Ammann Verlag: Zürich 1990, S. 39 f.
Christoph von Gallera meint
Lieber H.J. Schwarzer, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Was den Umgang mit ganzen Textteilen oder Texten betrifft, muss ich aber aus redaktionellen und urheberrechtlichen Gründen darauf hinweisen, dass dies für den privaten Gebrauch gilt, nicht aber für Websites.
Beste Grüße vom Mittelhessenblog