„Was war denn der beste Rat, den Sie aus Afghanistan haben mitnehmen können?“ wollte einer der Schülerin in der Herderschule in Gießen wissen, die bis dahin hochkonzentriert einem bald zweistündigen Vortrag des aus Alsfeld stammenden Oberleutnants zur See, Marco Hellgrewe, gefolgt waren. Nachdem vorher bereits der Kommandeur der Division Spezielle Operation aus Stadtallendorf, Generalmajor Jörg Vollmer, etwas über die Aufgabe der DSO berichtet und den Auftakt der Präsident des Hessischen Verfassungsschutzes, Roland Desch, mit Informationen zu aktuellen Aufgaben und Vorgängen rund um den Verfassungsschutz gemacht hatte, wäre anzunehmen gewesen, die Schüler hätten das Interesse verloren – noch dazu, da es sich bei der Sommerakademie um die erste Veranstaltung dieser Art handelte und dies noch dazu in der letzten Woche der hessischen Sommerferien. Hellgrewes Bericht über ein Afghanistan jenseits des militärischen Camp-Alltags war der Schlusspunkt einer Reihe von Vorträgen, die sich über zwei Tage zogen und aktuelle naturwissenschaftliche, gesellschafts- und sicherheitspolitische Fragen aufgriffen. Die Veranstaltung, die wieder mit neuen Themen 2013 angeboten werden soll, wurde vom Fachbereichsleiter für Gesellschaftswissenschaften, Wolf Krotzky, ins Leben gerufen.
Die Schülerfrage machte Hellgrewe, der vorher über seine Erfahrungen mit Taleban, Mujaheddin, lokalen Gouverneuren und gefährlichen Situation berichtet hatte, die er überlebte, für einen Augenblick sprachlos. Nach kurzem Nachdenken erzählte er dann von einem Erlebnis mit einem alten Mann, dem er im Osten Afghanitans begegnet war: „Du kommst doch aus dem Westen. Nicht wahr?“, habe ihn der alte Mann gefragt. Der deutsche Soldat bejahte diese Frage. „Dort redet Ihr doch auch viel über Menschenrechte und setzt Euch für sie ein?“ Auch das bejahte Hellgrebe. „Warum setzt Ihr Euch denn dann auch noch extra für Frauenrechte ein? Das verstehe ich nicht“ wollte der alte Afghane wissen. In dem Fall musste der Soldat, der als interkultureller Einsatzbeobachter gut ein Jahr Afghanistan in all seinen Provinzen bereist hatte und heute unter anderem Beraterin der deutschen Bundeskanzlerin ist, passen. Denn auf diese Frage hatte er keine Antwort parat. Und dennoch sei dieses Erlebnis eines, das ein komplett anderes Licht auf die Menschen werfe, sie anders zeige, als sie meistens gerne in westlichen Medien dargestellt würden. Auch wenn viele nicht lesen oder schreiben könnten, würden sie doch sehr genau verfolgen, was sich gesellschaftlich um sie herum tue, auch was an Ideen von den Leuten aus dem Westen gebracht werde und womit diese sich befassen.
[Redaktionelle Anmerkung: Die Frage der Frauenrechte spielte seinerzeit bereits unter dem damaligen Machthaber und Mujaheddin-Führer Ahmad Sha Massoud eine Rolle. Aus Sorge, die Taliban könnten in Afghanistan die Oberhand gewinnen, hielt Massoud eine Rede vor dem Europäischen Parlament, warb um humanitäre Unterstützung. Zwei Tage vor dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme des Welthandelszentrums in New York wurde Massoud selber am 9. September 2001 Opfer eines Selbstmordanschlags zweier als Journalisten verkleideter arabischer Terroristen. Massoud habe die USA kurz vorher vor möglichen Anschlägen gewarnt. Massoud wird in Afghanistan heute noch als Held verehrt. ]Hellgrewe sprach ebenfalls den Vorfall des Bombardements des Tanklastzugs bei Kunduz an. Der Fall liegt nun bald drei Jahre zurück. In Deutschland und im restllichen Ausland sorgte der Vorfall für heftige Diskussionen. In Deutschland mussten deswegen Spitzenpolitiker Franz Josef Jung und Staatssekretär Peter Wichert gehen, den Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhahn, kostete es ebenfalls sein Amt. Jung ist heute einfacher Bundestagsabgeordneter, Wichert ist wieder in einer Spitzenfunktion im Bundesverteidigungsministerium und Schneiderhahn im Ruhestand als General a.D. Die Aufregung in Deutschland über den vom damaligen Oberst Georg Klein befohlenen Luftschlag gegen zwei von den Taliban entführten Tanklastern hält bis heute an. Trotz Einstellung sämtlicher rechtlicher Schritte und der Feststellung, Klein habe richtig gehandelt, sorgte zumindest seine Beförderung zum General für erneutes Medienrauschen. Dieses Echo, das Klein in Deutschland hervorruft, sei aus Sicht der Afghanen selber nicht verständlich. Hellgrewe erklärt, wieso. „Für die Afghanen war der Luftschlag eine klare Verteidigung. Wer sich an der geplanten Entführung der Tanklastzüge beteiligte, musste damit rechnen.“
Der Oberleutnant sagte vor den Schülern, er gehe davon aus, dass die Lage in Afghanistan vor allem innenpolitisch in Deutschland fallweise von der Politik ausgenutzt werde. „Die meisten Politiker kommen schnell, bleiben einige Stunden und glauben dann, die Situtation beurteilen zu können“, wünscht sich Hellgrewe mehr echte Bereitschaft, sich mit einer „alles anderen als einfachen Materie“ vertraut zu machen. Dass Hellgrewes Einschätzung und Wunsch nicht im luftleeren Raum steht, dafür mag ein anderes Indiz stehen: Der Bericht, den er im Auftrag von Brigadegeneral Frank Leidenberger nach seiner Rundreise angefertigt hatte, wurde zumindest offiziell von der Bundesregierung nicht zur Kenntnis genommen. Im Mai 2010, während der Amtszeit des damaligen Bundesverteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg, hatte der grüne Bundestagsabgeordnete Dr. Frithjof Schmidt eine Anfrage gestellt, ob es richtig sei, dass in diesem Bericht die Möglichkeit einer politischen Lösung des Afghanistan-Konflikts durch die lokalen Kräfte angedeutet werde und wie die Bundesregierung dies nutzen wolle. Die Antwort der Bundesregierung: Der Bundesregierung läge kein derartiger Bericht vor, den Leidenberger in Auftrag gegeben habe. Hellgrewes Bericht sei ein Reisebericht, den die Bundesregierung weder kommentiere noch sich zu eigen mache.
Wie Hellgrewe sagte, könne ein dauerhafter Friedensprozess in Afghanistan nur dann in Gang kommen, wenn für die fälligen Gespräche auch die überkommenen Strukturen berücksichtigt würden. Genauso müsste man die Jugend, generell die junge Generation mehr ansprechen, dort mehr Möglichkeiten schaffen. Hellgrewe gab die Kritik weiter, viele Gelder, die aus dem Westen nach Afghanistan gezahlt würden, versickerten einfach im Boden, Schulen und andere Gebäude würden gebaut und anschließend kümmere sich niemand mehr darum.
Noch etwas anderes gab Hellgrewe zu bedenken, dass jedem Soldaten und Zivilisten, der neu in Afghanistan ankomme, anscheinend fremd sei: „In Afghanistan spielen Begriffe wie Ehre und Würde noch eine Rolle, wie es sich in Deutschland wohl kaum jemand vorstellen kann. In Afghanistan gelte es etwa als Beleidigung, eine gestreckte Hand einfach zu ignorieren. Dass das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen im Extremfall tödlich enden kann, beweise das Schicksal zweier französischer Journalisten. Weil sie nackt im Zelt geschlafen hatten, verletzten sie damit die Würde der Menschen in ihrer Gegend. Ihre Unachtsamkeit bezahlten sie mit dem Leben. „Es kommt immer wieder auf Fingerspitzengefühl, Zuhören und immer wieder Zuhören an. Nur so kann man am Ende das Vertrauen gewinnen und seine Netzwerke aufbauen.
Aus persönlicher Sicht schrieb Hellgrewe den politischen Planern des Militäreinsatzes noch etwas anderes ins Stammbuch: Der Krieg in Afghanistan wäre von Anfang nicht zu gewinnen gewesen. Was nichtzuletzt auch an dem Land selber liege. Ein Blick in die Geschichte gibt Hellgrewe recht: Einzig Alexander dem Großen war es gelungen, das Gebiet des heutigen Afghanistan zu besetzen. Später sollten es dann die Briten sein, die im 19. Jahrhundert sich blutige Nasen am Khaiberpass holten, in den 80’ern die Sowjetrussen und nun in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts sind es vor allem die USA, wieder die Briten, aber auch Franzosen und Deutsche, die ihren Versuch, militärische Erfolge zu erringen und so Ruhe ins Land zu bringen, bisher mit einem hohen Blutzoll bezahlen mussten – ungeachtet dessen, dass das Verständnis für diesen Krieg in der Bevölkerung sowieso immer mehr schwinden ließ. Trotz dieses Wissens und der Tatsache, dass er sein wagemustiges Zweierunternehmen bald drei mal mit dem Leben bezahlt hätte (versehentlicher Beschuss durch die Amerikaner, Nierenvergiftung durch den Verzehr ungereinigten afghanischen Brotes und einen Schneesturm am Salang-Pass), sagt Hellgrewe, dass er jederzeit wieder nach Afghanistan gehen würde. Warum? „Die Menschen dort sind es einfach wert, dass man sich für sie einsetzt.“
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