Was soll das jetzt? Mittelhessen ist doch nicht der Harz! Und was haben die drei mittelhessischen Städte mit den beiden Harzstädten zu tun? Auf den ersten Blick wohl nichts. Auf den zweiten mehr als man denkt. Ein interessanter Nebenaspekt: Die Theorie, nach der nicht nur diese fünf Städte heute noch geographisch in ihrer Bedeutung eingeordnet werden, sollte seinerzeit das „Führerprinzip“ der NS-Herrschaft in der Raumordnung durchsetzen und wurde nach dem Krieg weiterentwickelt.
Es sind sicher nicht die Einwohnerzahlen. Wernigerode hat nach den jüngsten Zensuszahlen 33710 Einwohner. Halberstadt gilt als die größte Stadt des Landkreises Harz, zählt laut offizieller Statistik 40526 Einwohner, hat wie die drei mittelhessischen Städte indes auch einen Oberbürgermeister. So wie übrigens auch Wernigerode. Zum Vergleich: Gießen hat nach eigenen jüngsten Angaben mittlerweile die 80000er-Grenze geknackt. Marburg hat 72433 Einwohner, Wetzlar hat 51063 Einwohner. Alle drei Städte erfüllen die Funktionen eines so genannten Oberzentrums in Mittelhessen. Laut Definition bedeutet dies, dass alle drei Städte für ihre Bedeutung in Mittelhessen an der Spitze stehen. Vergleichbar mit Halle, Dessau oder Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Die nächste darunter liegende Kategorie wird Mittelzentrum genannt. In Mittelhessen erfüllt Limburg diese Funktion – ergänzt um Teilmerkmale eines Oberzentrums. In Sachsen-Anhalt gibt es nur eine Stadt mit dieser Funktion: Halberstadt.
Die Einteilung in so genannte Ober‑, Mittel- und Grundzentren hatte der Geograph Walter Christaller in den 30ern des 20. Jahrunderts erfunden und in seiner Theorie der zentralen Orte beschrieben. Danach kommen je nach Lage und Einwohnerzahl Orten eine bestimmte Bedeutung für ihre Region zu. Laut Wikipedia hat der Geograph, der erst der KPD nahestand, deswegen vor der Naziherrschaft nach Frankreich floh, um dann später doch in die NSDAP einzutreten, mit dieser Einteilung das so genannte „Führerprinzip“ in der Raumordnung umsetzen wollen. Seine Idee, so das Onlinelexikon, sei besonders in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weiter entwickelt worden.
Was haben Gießen und Halberstadt nun miteinander zu tun? Beide Städte erlitten durch Bombenabwürfe der Alliierten 1944 (Gießen) und 1945 (Halberstadt) schwerste Verwüstungen und insbesondere die nahezu vollständige Zerstörung ihrer Altstädte. Und in beiden Städten zog man in der Nachkriegszeit in dem jeweils typischen Baustil der Zeit Bauten hoch, die mehr dem Anspruch der reinen Zweckmäßigkeit folgten als dem Bedürfnis, auch einen Ort zu schaffen, der wieder Magnet sein könnte, zum Verweilen, Sich-Treffen der Einheimischen und Besuchern einladen könnte – in der Regel ein zentraler Platz wie ein Marktplatz mit einladender Architektur. Die Resultate sind bekannt: Die zentrale Straße Gießens ist der Seltersweg. Architektonisch zwar teilweise noch geprägt durch Hausfassaden, die an Jugendstil erinnern. Nur, als Plätze, an denen man sich gerne länger aufhält, die nicht in erster Linie überdachtes Geschäft mit Sitzmöglichkeit sind, kommt an dieser zentralen Straße kaum etwas in Frage. Die Plätze, an denen das möglich ist, muss man erst einmal suchen. Als Versteck und Geheimtipp das Bitchen mitsamt Ulenspiegel in einem Seitenarm des Seltersweg. Eine weitere Möglichkeit ist das Ensemble rund um den Stadtkirchenturm und Passagen entlang des Brandplatzes in der Nähe des Botanischen Gartens. Nur, es dürfte fraglich sein, ob Touristen sich tatsächlich dorthin verirren oder dann doch nicht lieber gleich zum Schiffenberg am Ostrand Gießens fahren oder an die Lahn Richtung Badenburg. Zwar hat Gießen sicherlich einiges an touristischen Höhepunkten zu bieten, nur die erschließen sich eben nicht auf den ersten Blick.
Anders dagegen Marburg und Wetzlar. Beide Städte haben das Glück, intakte Altstädte mit historischer Architektur zu haben, die zudem noch so angeordnet ist, dass sich zentrale Plätze zum Verweilen bilden. In Marburg insbesondere der Rathausplatz mit der Verbindung zur Schlosstreppe. Das Gegenstück dazu bildet der Domplatz in Wetzlar. Ausgangspunkt für Touristenführungen, eingerahmt von diversen gastronomischen Angeboten, dem Stadthaus und regelmäßiger Ort für den Wochenmarkt. Wobei angesichts des aus Sanierungsgründen geplanten Abrisses und Neubau des Stadthauses fraglich sein dürfte, ob sich die Wetzlarer Stadtväter- und ‑mütter damit der Stadt und der Auswirkung gerade auf den Tourismus tatsächlich einen Gefallen tun werden.
Das Gegenstück zu Marburg und Wetzlar ist die Harzstadt Wernigerode. Sie zieht nicht nur wegen ihres Schlosses die Besucher an, sondern lockt durch eine inzwischen weitesgehend durchsanierte und von den Folgen des DDR-Verfalls befreite Altstadt mit vielen Fachwerkhäusern. Außerdem werden auch die Zeiten für die Gastronomie weniger eng reguliert als in Halberstadt. Dort, so berichteten betroffene Gastronomen, gebe es im Innenstadtbereich die Anordnung, dass bis 18 Uhr sämtlicher Verkauf etwa zu Feiertagen wie Pfingsten beendet sein müsse. Das Resultat: Während in dem ohnehin durch seine Altstadt und das Schloss begünstigten Wernigerode solche Beschränkungen nicht existieren und dementsprechend auch an Wochenenden oder Feiertagen Touristen die Straßen füllen, gähnt Halberstadts Innenstadt trotz solcher Magnete wie dem Dom mit seinem Domschatz, Gleimhaus oder mit dem Heineanum, einem „Muss“ für ambitionierte Vogelkundler – es enthält eine der größten vogelkundlichen Sammlungen Deutschlands überhaupt.
Halberstadts Altstadt ist allenfalls nur noch in Resten erhalten. Bausubstanz, die an alte vergangene Zeiten der Stadt erinnert und Menschen mit einem „Romantik-Faktor“ anlocken könnte, ist eher in den Randlagen oder eben nur verstreut vorhanden. Die Lücken, die durch Bomben gerissen wurde, wurde durch die typische DDR-Architektur geschlossen und das, was an Fachwerkhäusern noch erhalten war, wurde dann anschließend gezielt vernachlässigt. Nach der Wende hat man dann versucht, mit einer so genannten historisierenden Architektur die Innenstadt wieder zu beleben. „Das hat nicht wirklich funktioniert. Wir haben hier nur die üblichen Ketten und Filialisten als Mieter, die man sowieso überall findet. Das zieht nicht wirklich. Und dann kommt eben noch dieses Verbot dazu“, beschwert sich einer der Gastronomen.
Die Lage erinnert in der Tat ein wenig an Gießen: Wie Halberstadt hat Gießen durch Bombenabwürfe den größten Teil seiner Innenstadt verloren. Allenfalls in den innerstädtischen Randbezirken erinnern etwa gründerzeitliche Häuser an alten Glanz. Und wer abends nach Gießen fährt, erlebt häufig genug den Eindruck: „Hier werden die Bürgersteige spätestens um 20 Uhr hochgeklappt“. Es sei denn, außergewöhnliche Ereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder Landesgartenschauen durchbrechen diese Regel.….
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