Einerseits gut, andererseits schlecht: Die Vergewaltigung einer jungen Frau bei Linden im Landkreis Gießen ist ein reines Lügenmärchen. Was bleibt, sind Gedanken über ein äußerst zerbrechliches Gebilde namens „Die Suche nach der Wahrheit“
Anfang November sorgte die Nachricht über die Vergewaltigung einer jungen Frau bei Linden-Leihgestern für Aufregung und aus Sicht eines Onlinemediums kam noch der Aspekt hinzu, dass Facebook von FB-Nutzern quasi in vorauseilender Hilfsbereitschaft zur Verbreitung eines falschen Phantombildes benutzt wurde. Nun haben das Polizeipräsidium Mittelhessen und die Gießener Staatsanwaltschaft in einer gemeinsamen Presseerklärung gemeldet, dass alles nur ein großer Irrtum, eine freie Erfindung der jungen Frau war. Sie habe psychische Probleme, sich die Verletzungen selber zugefügt. Das, so Polizei und Staatstanwaltschaft, habe die junge Frau „glaubhaft“ versichert. In Folge der Berichterstattung in den Medien sei es zu 236 Hinweisen gekommen, zahlreiche Männer mussten sich einer DNA-Untersuchung unterziehen.
Was bleibt, ist einerseits der Beweis der Arbeit des Landeskriminalamtes, das maßgeblich zur Anfertigung eines korrekten Phantombildes nach der Verbreitung eines zunächst falschen beitrug und die schnelle Bildung einer 20-köpfigen Sonderkommission, um den Täter zu finden. Andererseits bleibt der fade Beigeschmack, was geschehen wäre, wenn die junge Frau nicht ihre Lüge gebeichtet hätte. So sind schon einige Männer ins Fadenkreuz geraten, wenngleich auch laut Polizei die DNA-Proben nun vernichtet wurden. Aber es gibt den Grundsatz: Es bleibt immer irgendetwas hängen, das mulmige Gefühl, irgendwie unter Beobachtung zu stehen und im Falle eines Falles zum Kreis der Verdächtigen zu gehören. Dass 43 Männer ihre DNA-Probe freiwillig abgegeben haben (um ihre potentielle Täterschaft) auszuschließen, lässt allerdings auch nachdenklich werden.
(Der Originaltext der Pressemitteilung steht hier unter der Schlagzeile „Angezeigte Vergewaltigung in Leihgestern fand nicht statt! Polizei und Staatsanwaltschaft geben Entwarnung!“)
Was ebenso bleibt, ist ein mulmiges Gefühl bei der Tätersuche. Sicherlich es geht im Zweifelsfall darum, ein Verbrechen schnell aufzuklären. Geht es um Kinder und vergewaltigte Frauen, ist diese Bereitschaft noch größer. Nur, was wenn es wie hier ein Märchen ist, der Erfinder dieses Märchens aber bei seiner Version bleibt, es schafft, seine Version so glaubhaft zu präsentieren, dass auch gewiefte Ermittler auf den Leim gehen. Dieses Schicksal war in Hessen unter anderem dem Lehrer Horst Arnold widerfahren, der in diesem Jahr kurz nach seinem 53. Geburtstag an den Folgen eines Herzinfarkts starb. Arnold war von einer Kollegin der Vergewaltigung bezichtigt worden, bestritt seine Schuld, wurde dennoch verurteilt, musste die Strafe absitzen. Letztlich war es der Frauenbeauftragten seiner ehemaligen Schule zu verdanken, dass seine Unschuld im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahren gerichtlich festgestellt wurde und er freigesprochen wurde. Das war 2011. Das Land Hessen verweigerte ihm bis zuletzt die Rehabilitation und Zahlung einer angemessenen Haftentschädigung und seine Rehabilitation als Lehrer. Über den kompletten Fall liefern die Odenwaldgeschichten einen guten Überblick
Der Mainzer Strafverteidiger Florian Wille hat aktuell zu dieser Problematik seine Dissertation „Aussage gegen Aussage in sexuellen Missbrauchsverfahren“ vorgelegt und weist darauf hin, dass aufgrund der vorgestellten Verfahren weder in Deutschland noch in Österreich die Unschuldsvermutung angenommen wird noch der eigentlich selbstverständliche Grundsatz „in dubio pro reo“, also „Im Zweifel für den Angeklagten“, gewahrt bleibt. Im Grunde ein Armutszeugnis für ein Rechtssystem, das offiziell als auf der „freiheitlichen und demokratischen Grundordnung“ stehend bezeichnet wird. Willes entscheidende Passage in seiner Dissertationsschrift kann hier nachgelesen werden.
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