25 Jahre Berufserfahrung, zehn Jahre schon selbständig oder seit vier Jahren von einer Halbjahresanstellung zur nächsten sich durchhangeln müssen – oder ganz anders: Eigentlich noch in einem zumindest befristet finanzierten wissenschaftlichen Projekt stecken und erst einmal prüfen, wie vielleicht der Markt für die eigene Existenz aussehen könnte: Das, was zum ersten Mal im Gießener Europaviertel im TIG stattfand, war ein Flirt der besonderen Art. Ein Flirt mit Ansage und nach Regeln. Mit der möglichen Aussicht, dass nicht nur ein „One-Night-Stand“ aus der Sache wird, sondern möglichst noch viele erfolgreiche Jahre folgen. Etwas mehr als 50 Teilnehmer hatte die Veranstaltung. Warum sich allerdings 16 Jungunternehmer aus den beiden mittelhessischen Landkreisen Gießen und Lahn-Dill einer überwiegend aus dem Frankfurter Raum kommenden Beraterschar gegenübersahen, ist eine offen bleibende Frage.
Ohne Kontakte geht nichts. Das ist im Grunde eine Binsenweisheit. Für Familien, die umziehen. Kinder, die neu in eine Schule kommen. Irgendwie braucht jeder Kontakte. In den Social Media (Facebook, Twitter, Google+, Xing etc. sind sie selbstverständlich. Darüber hatte das Mittelhessenblog vor kurzem berichtet. Nur mitunter reichen auch im 21. Jahrhundert und trotz aller Social Media-Möglichkeiten die digitalen Kontakte nicht aus. Etwa dann, wenn junge Unternehmensgründer Experten suchen, die ihnen Tipps geben können, wie sie Fallstricke auf ihrem Weg in die Selbständigkeit vermeiden könnten. Darum geht es im wesentlichen bei dieser Idee des Gründerflirts.
Nach 2009 (Wetzlar) und 2010 (Marburg) war es nun das dritte Mal, dass dieser Flirt zwischen Neugründern und Marketing, Finanz- oder Vertriebsexperten in Mittelhessen stattgefunden hatte. In Gießen. Ebenfalls wieder an einem Ort, der symbolträchtig für den Aufbruch zu neuen Ufern ist , mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten der Anfangszeit: In Wetzlar war es auf dem Gelände der ehemaligen Spilburgkaserne, heute ein Gewerbepark, das TTZ Marburg steht auf dem Gelände der ehemaligen Jägerkaserne, das TIG auf dem der ehemaligen Steubenkaserne. Mit Aufbrüchen in eine neue berufliche Zukunft oder der Verfestigung einer eben begonnenen neuen beruflichen Zukunft hatte denn die Veranstaltung im TIG auch zu tun .
Vor sieben Jahren hatte das F.A.Z.-Institut in Frankfurt, eine hundertprozentige Tochter der FAZ, den Gründerflirt ins Leben gerufen und seit dem kontinuierlich ausgebaut, wie Projektleiterin Ulrike Mayr in Gießen erklärte. Dabei sei der Schwerpunkt der maßgeblich vom Land Hessen und der EU geförderten Veranstaltung auf ganz Hessen gelegt worden. Rund 40000 Euro koste ein solcher Abend, der für die Teilnehmer indes gar nichts koste. Insofern erstaunlich, dass diese Chance, sich miteinander zu verbinden jedenfalls in Gießen wohl nur von den 16 Junggründern genutzt wurde, die überwiegend aus den Landkreisen Gießen und Lahn-Dill kamen. Sie sahen sich einer Mehrheit von Experten gegenüber, die im Gegensatz überwiegend aus dem Frankfurter Raum kamen oder, in einem Fall, aus Bonn. „Nun, daran kann man vielleicht sehen, wie weit sich dieses Angebot schon heurmgesprochen hat“, kommentierte Mayr diesen Ausreißer. Unabhängig davon war das Spektrum der Lebensalter, Berufserfahrungen und Berufsbilder der Flirtpartner allerdings bunt gemischt: : Vom gestandenen Maschinenbauer und Erfinder über Graphiker und Videoexperten bis hin zu Naturwissenschaftlern und Kaufleuten.
Der Flirt fand nach einem streng durchorganisierten Reglement statt. Dafür hatte Mayr acht so genannte Flirtscouts rekrutiert, die sich an den Tischen postierten, um unter der Leitung Mayrs und ihrer Mitarbeiterin Simone Kuczynski darüber zu wachen, dass jeder Gründer und jeder Experte die Möglichkeit hatte, jeweils die eigene Idee kurz vorzustellen oder wie geholfen werden kann. Dabei mussten die Flirtpartner immer die Tische wechseln, so dass die drei Flirtrunden gut 90 Minuten beanspruchten. Die Scouts kamen von den beteiligten Förderpartnern des Gründerflirts aus der regionalen Wirtschaft:TIG-Geschäftsführerin Antje Bienert, Susanne Bingmann von den Wirtschaftsjunioren Gießen-Vogelsberg, Roisin Russ vom Wetterauer Unternehmerinnennetzwerk Aufgeweckt, Burkhard Wagner aus Niederwalgern von den Wirtschaftspaten, Franziska Deutscher aus Gießen und Inga Haus aus Friedberg vom Entrepreneurship Cluster Mittelhessen, Sonja Golubovic von Justus-Start, einer Initiative des EC Mittelhessen, nichtzuletzt Beate Hammerla für die Industrie- und Handelskammer Gießen-Friedberg und Roland Nestler von der RKW Hessen.
Die Motive für die Teilnahme am Flirttreff waren unterschiedlich: So sucht der seit einem halben Jahr in Gießen ansässige Maschinenbauer, Stahlwerker und Erfinder für Vakuumschaltanlagen Bernd Deja überhaupt erst einmal Kontakte in der Gießener Region. Wie er sagte, seien seine Spezialiät, die Vermittlung von Ingenieuren aus mittel-und osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien. „Es gibt Bereiche im Anlagenbau, da kommt es weniger auf die Sprachkenntnisse als das Fachwissen an“, erklärte Deja. Umgekehrt würden deutsche Firmen händeringend Projektleiter für Einsätze in Ländern wie Indien suchen. „Daran haben viele Deutsche kein Interesse,wenn es sich um Halbjahreseinsätze handelt“, sagt Deja. Der Ingenieur ist einer der derzeit rund 70 Mieter des TIG.
Einen anderen Service will die gelernte Groß-und Außenhandelskauffrau Daniela Hoss aus Pohlheim bieten. Sie habe in den letzten drei bis vier Jahren immer wieder nur Halbjahresverträge bekommen und wolle sich nun mit einer kaufmännischen Haushaltshilfe selbständig machen. Der Name für ihre künftige Tätigkeit wurde gerade während diese Abends geboren, von Fred Schmidt aus Wetzlar, der selber als Knowhow-Geber für Vertrieb, Marketing und PR erschienen war. Schmidt betreibt „freds buero“ in Wetzlar. Seine Spezialität ein Telefonservice für Geschäftsleute und Unternehmen. Nach eigenen Erkenntnissen passten Eva Diehl und Birgit Aue an diesem Abend „nicht ganz in die Gründerszene“. Die beiden Biologinnen von der Justus-Liebig-Universität sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Projekts Ökoservice, das noch bis 2015 läuft. Sie, so Diehl, wollten sich frühzeitig darum kümmern, inwieweit sie ihr Wissen markttauglich nach dem Ablauf der Projektphase verwerten könnten. Sie beschäftigen sich mit Bewertungs- und Modellierungsverfahren, die unter anderem etwas im Straßenbau über das Vorkommen von besonderen Tierarten aussagen können und bisherige Planungsschritte verkürzen könnten.
Für Dominik Hofmann aus Staufenberg von der Unternehmensberatung Gründung-Hessen, der als Know-How-Geber unter anderem für Betriebswirtschaft und Geschäftsführung gekommen war, bestand das Motiv darin, potentiellen Gründern dabei zu helfen, nicht die selben Fehler beim Unternehmensaufbau zu machen, die andere schon vor ihnen machten.
Ebenfalls auf der Suche nach Know-How-Gebern war Andreas Voges, ebenfalls wie Hoss aus Pohlheim. Der Westernliebhaber möchte in der Region einen Laden für Westernkleider eröffnen und Zeitgenossen, die auf der Suche nach Übergrößen sind.
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