Professor Hubert Kleinert von der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen untersuchte mit einer Gruppe von Studenten rund ein Jahr lang die Vergangenheit ehemaliger politischer Funktionsträger im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Am 10. Oktober übergab er die Studie an Landrat Robert Fischbach. Es ist bundesweit die erste über die NS-Belastung einer so großen Gruppe ehemaliger Kommunalpolitiker, die mehr als 50 Jahre aktiv waren.
Ganz unspektakulär kommt sie daher. Es könnte auch eine studentische Abschlussarbeit sein: schlichtes Deckblatt, einseitig bedrucktes Papier, Klebebindung. Doch der Inhalt enthält Sprengstoff – auch nach nahezu 70 Jahren. „Das löst nicht unbedingt Freude aus“, bekannte Landrat Robert Fischbach, der die Begrüßungsansprache zur Vorstellung der Studie „Die NS-Vergangenheit ehemaliger politischer Funktionsträger im Landkreis Marburg-Biedenkopf“ hielt. Präsentiert wurden die Ergebnisse am Donnerstag, 10. Oktober, im Landratsamt in Marburg vor dem Kreisausschuss und Kreistagsmitgliedern.
341 Personen haben Professor Hubert Kleinert und seine Studenten in der Untersuchung erfasst. Das sind alle Mitglieder des Kreistages, des Kreisausschusses und alle Landräte der Landkreise Marburg und Biedenkopf (später Marburg-Biedenkopf) der Wahlperioden von 1946 bis 1997. Aufgenommen hatten sie Männer, die vor Mai 1927 geboren wurden.
Zu 301 der 341 erfassten Männer können sie gesicherte Erkenntnisse in der Studie präsentieren. Danach standen 185 dieser 301 Kommunalpolitiker in keinem Zusammenhang mit irgendeiner einschlägigen NS-Organisation. Zwölf Männer – Frauen gab es damals in der Politik nicht – waren lediglich Mitglied in der Hitlerjugend gewesen. Die Mitgliedschaft in Massenorganisationen wie der Hitlerjugend oder auch die Teilnahme am „Reichsarbeitsdienst“ hatte Kleinert jedoch als Kriterium für das, was man als NS-Vergangenheit bezeichnen kann, ausgeschlossen.
92 Männer – und damit 30,6 Prozent – waren nachweislich Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gewesen. „Ich kann nicht ausschließen, dass die Zahl höher liegt, ich kann aber ausschließen, dass sie niedriger liegt“, sagte Kleinert, der die Ergebnisse der Studie vorstellte. Die Zahl liege deutlich über der des hessischen Landtags, zu dem Anfang dieses Jahres eine Untersuchung vorgestellt wurde. 15 dieser 93 Personen waren der Partei schon vor 1933 beigetreten und „dürften als Überzeugungstäter“ gelten, so Kleinert. Elf Männer waren zudem Mitglied der SS und 28 Mitglied der SA gewesen.
Kleinert warnte die Zuhörer jedoch vor schnellen Urteilen. „Die Überraschung der Studie“ habe sich bei der Untersuchung der drei gewählten Landräte ergeben, sagte er. August Eckel, von 1929 bis 1933 Vorsitzender der SPD, galt bislang als bekennender Nazi-Gegner. Als aktives SPD-Mitglied war der Lehrer und Leiter der Marburger Berufsschule 1933 sogar entlassen und für sechs Wochen in „Schutzhaft“ genommen worden. Eckel trat jedoch im Juli 1940 der NSDAP bei, wie Kleinert und seine Studenten herausfanden. „Über die Motive kann man nur spekulieren“, so Kleinert. Eckel war 20 Jahre Landrat (1946 – 1966)
Als ebenfalls überraschend erwies sich während der Untersuchung Friedrich Bachmann (CDU), von 1946 bis 1959 Landrat in Biedenkopf. Was sich den Forschern anfangs wie der „typische Fall eines deutsch-nationalen Karrierebeamten“ darstellte, führte jedoch im Untersuchungsverlauf auch zu der Erkenntnis, dass Bachmann in Gestapohaft war, weil er offenbar der Mitwisserschaft am Attentat des 20. Juli verdächtigt wurde.
Mehr als „ein paar braune Flecken“
Als prominenteste Untersuchungsperson kann Ludwig Preiß gelten, weil er es als Direktkandidat gleich in den ersten Deutschen Bundestag schaffte und auch danach noch mehrfach für verschiedene Parteien im Bundestag saß. Der promovierte Landwirt aus Leidenhofen war jedoch Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds gewesen, gehörte ab 1933 dem studentischen SA-Sturm an, war ab 1935 Mitglied der SS und ab 1937 Mitglied der NSDAP. Von den Entnazifizierungsbehörden wurde Preiß nach dem Krieg jedoch als Mitläufer eingestuft.
Es gebe „mehr als ein paar braune Flecken“, fasste Kleinert zusammen. Besonders „bedrückend“ sei, dass die Vergangenheit der Lokalpolitiker in keiner der vielen Jubiläumsschriften oder Jahr- und Geschichtsbücher aus der Region erwähnt würde.
Verwundert über die hohe Anzahl an Parteimitgliedern waren Kleinert und seine Studenten allerdings nicht. In der schon lange vor Hitler sehr konservativ und antisemitisch geprägten Region war die Zustimmung zur NSDAP deutlich höher als in anderen Provinzen, können die Wissenschaftler in der Einführung zu der Studie zeigen. „Unsere Untersuchungsregion muss also als eine ausgesprochene Hochburg des Nationalsozialismus mit einer lange zurückreichenden starken Tradition antisemitischer Ressentiments gelten“, heißt es dort zusammenfassend.
Die Studie kann als Pilotprojekt gelten. Kleinert und seine Studenten sind die ersten, die ein kommunalpolitisches Parlament derart systematisch untersucht haben. Die Initiative dazu kam von der Fraktion „Die Linke“, die 2011 einen entsprechenden Antrag stellte. Der Ältestenrat stimmte der Untersuchung schließlich einstimmig zu. „Die Entscheidung ist nicht leichtgefallen, weil die Tätigkeit der Betroffenen ehrenamtlich war“, sagte Kreistagsvorsitzender Detlef Ruffert.
Bis 1997 saß das letzte ehemalige NSDAP-Mitglied im Kreistag. „Nicht wenige schwiegen bis zum Tod. Viele mussten nicht viel verschweigen, weil sie nicht viel gefragt wurden“, sagte Kleinert.
Die komplette Studie steht auf der Internetseite des Landkreises Marburg-Biedenkopf und kann dort gelesen und heruntergeladen werden.
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