Artikelupdate: Die aktuellen Ereignisse in der Türkei lassen inzwischen niemanden mehr kalt. Das Land, an dessen Aufnahme in die EU sich die Geister im alten Abendland reiben, befindet sich, so weit die vermittelten Bilder diese Einschätzung erlauben, in einer Aufbruchstimmung, in der sich die liberalen Kräfte durchsetzen könnten. Gerade dies wäre sicherlich auch ein wichtiges Signale an die Menschen türkischer Abstammung in Deutschland, die eher dem liberalen, weltoffenen Kurs folgen. Aus diesem Grund hat sich das Mittelhessenblog für die mediale Unterstützung der FB-Seite „Halte durch, Türkei“ entschlossen.
Philosoph: Da denkt vermutlich heute jeder erst einmal an die üblichen TV-Philosophen. Precht zum Beispiel. Vielleicht noch an das Wort „Philosophie“ auf Unternehmenswebseiten. Oder die 68er an Adorno. Aber Platon, Sokrates und Aristoteles? Die kennt man vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht, Schüler heute aus dem Fach Ethik oder sie tauchen in Kreuzworträtseln oder bei „Wer rettet die Million“ auf. Dass aber die drei antiken Denker mit ihren Namen nebeneinander auf einem poppigen Bild in einem Dönerrestaurant in Gießen auftauchen? Das war zumindest einmal Wert, nachzufragen. Weil: Klischeebrille auf: Dönerbude gleich türkisch gleich Muslim. Nix Griechisches. Philosophen schon mal gar nicht. Die Antworten waren verblüffend – und der Zufall hatte seine Hände auch im Spiel.
Vorbemerkung: Ein Portraitfoto gibts nicht. Das wollte der Inhaber nicht. Seinen Namen hat er dafür gesagt. Aber weil die Informationen möglicherweise ihm Ärger machen könnten, war es die Entscheidung des Mittelhessenblog den Namen vorerst herauszulassen. Darüber wird er informiert. Wenn er keine Einwände hat, wird das Pseudonym, das hier verwendet wird, wieder gegen den richtigen Namen ausgetauscht.
Eines der ältesten
Das Restaurant ist bunt. Es liegt an einer der Hauptdurchgangsstraßen in Gießen. Und es ist eines der ältesten. Seine Wurzeln reichen bis Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Seine Gäste sind Studenten, Professoren, Handwerker, Geschäftsleute. Gegründet hatte es seinerzeit eine türkische Familie. Doch inzwischen, auch schon wieder fast eine Ewigkeit im Geschäft der Dönerrestaurants, ist das Restaurant fest in der Hand eines Eigentümers. Nerses Melikjan war seinerzeit seinem Vater in die Unistadt nachgefolgt. „Ich bin seit 1978 hier“. In Deutschland und eigentlich immer Gießen. Irgendwann Ende der 90er übernimmt er dann das Restaurant.
Die Türkei ist weit weg. Allerdings, denkt er an seine Schulzeit zurück, so erinnert er sich, dass zwar armenische Religion erlaubt war, nicht aber die armenische Geschichte. Seine Familie ist christlich. Die armenische Geschichte sei totgeschwiegen worden. Dafür türkische. Er war in Istanbul auf eine armenische Schule gegangen. Gefragt nach dem Dauerthema, dem Streitthema zwischen Armeniern und Türken, dem Massaker an den Armeniern – eines, das nach offizieller Lesart der Türkei keines ist. Offiziell, so Melikjan, sei in der Türkei immer wieder erzählt worden, dass es kein Massaker gewesen sei. Der jüngste Protest der türkischen Regierung in dieser Frage ist gerade wenige Tage alt. In einer Zusammenkunft mit dem armenisch-katholischen Patriarchen Nerses Bedros XIX. Tarmouni hatte Papst Franziskus in diesem Zusammenhang vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts gesprochen. Darüber und über den Protest der türkischen Regierung berichtet unter anderem Radio Vatikan.
Die aktuellen Unruhen in der Türkei hängen unter anderem mit einer konservativen Trendwende weg von der laizistischen (weltlichen) Orientierung des Staatsgründers Kemal Atatürk zusammen. Die evangelische Nachrichtenagentur Idea berichtete bereits 2012 über die Umwandlung einer ehemals christlichen Kirche in eine Moschee. Atatürk hatte seinerzeit, um Streit zu vermeiden, das Gebäude als Kulturdenkmal und Museum genutzt werden solle. Interessant ist übrigens die Rolle Atatürks, der als Gründer des modernen türkischen Staats gilt. Der türkische Anwalt, Journalist und Menschenrechtler Orhan Kemal Cengiz weist auf die Diskussionen in der türkischen Tageszeitung Radikal über ein Buch hin, nachdem Atatürk selber Armenier gewesen sein soll. Die gleiche Frage greift mit „Der Kosmopolit“ ein weiteres Onlineportal auf. Die bisher einschlägigen Beschreibungen des Lebenslaufs des türkischen Staatsgründers gehen darauf bisher nicht ein, wie etwa bei Planet Wissen.
1915 wurden von der damaligen jungtürkischen Regierung unzählige Armenier zusammengetrieben und auf Gewaltmärsche nach Aleppo (Syrien) geschickt. „Faktisch waren das Todesmärsche“, sagt Melikjan. „Man muss das natürlich unterscheiden: Sicher gab es auch damals Türken, Muslime, die diesen Kurs ihrer Regierung nicht richtig fanden und Armenier vor den Zugriffen versteckten. Aber die offizielle Linie war eine andere. Im Grunde hat sich da bis heute nichts geändert“, ist Melikjan skeptisch, dass sich nach den aktuellen Protesten in der Türkei etwas ändern werde.
„Es ist eine Frage der Bildung. In Istanbul und den anderen Städten leben die gebildeten Leute. In den ländlichen Regionen und je weiter man nach Osten kommt, umso einfacher werden die Menschen. Erdogan zielt genau auf diese Menschen ab“, begründet Melikjan seine Skepsis, ob es . Und mit Blick auf Deutschland meint: „Das Bild, das hier geprägt wird, ist ja größtenteils auch durch die Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten geprägt gewesen.“ Sprich, nach Deutschland seien oft die konservativeren Türken gekommen, die noch in den alten Traditionen leben. „Aber die Zeiten ändern sich ja“, sagt Melikjan, der schon lange die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat. Aber seine Skepsis bleibt.
Natürlich, er habe Familie in der Türkei, Freunde. Sicher fahre er immer mal in die Türkei. Aber unterschwellig sei dieses Gefühl da, Ob das hier in Gießen auch so sei. Ob es Konflikte zwischen Armenischstämmigen und Türkischstämmigen gebe. Immerhin stellen sie in der Stadt mit den mehr als 148 Nationen die Mehrheit. Nein. Keine Probleme. Könne er jedenfalls nicht feststellen. Melikjans Schilderungen hinsichtlich der aktuellen türkischen Entwicklungen bestätigen eine Trendwende: Rund ein Jahrhundert nach dem Massaker zeigen immer mehr Türken mit armenischen Wurzeln Farbe und bekennen sich zu ihrer Herkunft.
Skinhead warnte vor gefährlichen Gesinnungsgenossen
Und er berichtet über etwas, das in der etablierten deutschen linken Meinungsführerschaft möglicherweise Unglauben hervorrufen wird. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen NSU-Gerichtsverhandlungen. Da stehen ja Mordtaten aus der Neonaziszene auf der Tagesordnung: „Ich habe auch mit Skinheads zu tun gehabt. Einer von ihnen kam dann immer wieder zu mir und hat gesagt: ‚Pass auf, der ist gefährlich und der ist gefährlich. Vor denen sollte man sich in Acht nehmen‘.“ Melikjan lacht. Während er erzählt, muss er zwischendurch immer wieder unterbrechen. Kundschaft ruft. Es ist Mittagszeit. Direkt unter dem Bild mit den Namenszügen der drei Philosophen sitzen drei junge Männer. Dem Augenschein nach haben sie irgendetwas mit Trockenbauerei zu tun. Steht jedenfalls auf dem Rücken der Arbeitskleidung, die sie tragen. Ihr Deutsch hat einen orientalischen, russischen, polnischen Akzent.
„Mentalitäten sind verschieden“
Aber Melikjan erzählt etwas anderes. Ich frage ihn etwas, worauf ich von mittelhessischen Arbeitgeberorganisationen, von der Agentur für Arbeit genauso wie von den Gewerkschaften in den vergangenen Jahren immer wieder nur ausweichende Antworten bekommen habe: „Ist es etwas daran, dass türkischstämmige Unternehmen meistens immer wieder nur Lehrlinge und Mitarbeitern mit einem türkischstämmigen Hintergrund einstellen. Oder scheint das nur so?“. Ich sage ihm, dass ich auf diese Fragen bisher immer nur ausweichende Antworten bekommen habe. Insgeheim rechne ich damit, dass Melikjan mir hier bestenfalls sagen wird, darüber wolle er nicht sprechen. Es kommt anders. Er sagt, das komme durchaus vor. Aber nicht nur bei Türkischstämmigen. „Kann sein, dass es andere Mentalitäten sind, kann sein, dass es Sprachbarrieren sind“, sagt Melikjan. Zumindest könne das für große Betriebe gelten, die viele Mitarbeiter beschäftigen. Ich bin versucht, wieder in allzueinfaches Klischee zu verfallen – dieses mal von der anderen Seite. Armenier, klar. Dass er die Türken nicht mag. Im nächsten Moment pfeife ich mich selber zurück, besinne mich auf journalistische Distanz, keine Parteilichkeit und gehe das Gespräch im Geist durch. Ich beschließe, die Feststellungen, die er macht, festzuhalten. Sie werden Munition für Fragen, die ich an anderer Stelle wieder vorlegen kann. Meine Überlegungen bestätigen sich durch eine neue Szene:
Witze über Bayern München und die Fußballszene
Währenddessen kommt ein anderer Mann mit Irokesenzopf an den Tresen. Witze werden gerissen. Über Bayern München. Die Offenbacher seien besser. Hoffenheim wäre auch noch zu bevorzugen, werfe ich als absoluter Fußballlaie ein. Der Irokese stimmt mir zu und Melikjan grinst und sagt: „Nee Bayern ist besser“. Der Irokesenzopf sagt: Hier, geh fott mit den Bayern. Deswegen sitzt doch hier kaum einer. Guck Dich doch mal, nehmen Deine Gäste nehmen ihr Essen alle mit, weil Du das sagsr. Ich geh jetzt auch lieber.“ Er grinst ebenfalls und bekommt noch im Weggehen Melikjans provozierenden Ruf ins Restaurant mit: „He Leute, Deutschland ist Bayern, ist doch so?“. Rufts und breitet die Arme wie zum Sirtaki aus. Sein Publikum lacht ebenfalls. Stimmt zu.
„Wir kennen uns bestimmt zehn oder 16 Jahre“, sagt Melikjan. So gehe das eben immer zu. „Hier kann jeder herkommen. Spielt keine Rolle, welcher Glauben, welche Nationalität“. Der Tee, den ich serviert bekommen habe, ist inzwischen lauwarm geworden. Es war echter türkischer Tee.
„Das Bild hat uns einfach gefallen.“
Ach ja: Und wie war das mit den drei Philosophen an der Wand: Absicht oder Zufall? „Na ja, ich hab das Bild ja nicht gekauft. Das war mein Bruder. Er hat das Bild neben ein paar anderen im Großmarkt gekauft“. Die Bilder hätten einfach gefallen. „Und außerdem: Ich weiß gar nicht, ob überhaupt heute noch jemand weiß, wer diese drei sind. In der Regel geht dieses Wissen doch verloren“. Zumindest eines steht fest: Als das Restaurant neu war, hingen Bilder mit Hinweisen auf griechische Philosophen nicht an der Wand. Bisher habe ich derlei Hinweise in den einschlägigen Döner-Restaurants in Mittelhessen jedenfalls nicht feststellen können. Wem sie bekannt sein, der kann sich gerne melden. Die Hinweise werde ich hier veröffentlichen oder als Kommentar einpflegen.
Leserhinweis: Über das spezielle Verhältnis zwischen Türken und Armeniern hatte die Deutsche Welle im Februar berichtet.
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