POLITIK und WIRTSCHAFT/KULTUR
1984 reichte der Verdacht der Homosexualität aus, dass selbst Spitzenpolitiker und höchste Repräsentanten der Bundeswehr darüber stürzen und ihr Amt verlieren konnten. Dafür steht die so genannte Kießling-Affäre. Günther Kießling war ein deutscher Viersterne-General und damals stellvertretender Nato-Oberbefehlshaber. Er geriet in den Verdacht, homosexuell zu sein, musste sein Amt räumen und wurde später rehabilitiert. Etwas mehr als 20 Jahre später gehören homosexuelle Männer und Frauen zum Alltag der deutschen Gesellschaft. Dass die Frage der sexuellen Orientierung anscheinend aber schon im Kindes- und Jugendalter geklärt werden müsse, um Druck von betroffenen Jugendlichen zu nehmen, war die vorherrschende Motivation einer gemeinsamen Aktion des Jugendbildungswerks der Stadt Gießen gemeinsam mit der Familienberatungseinrichtung „pro Familia“, die selbst schon im Internet für kontroverse Diskussion gesorgt hattel. Nun regt sich ebenfalls aus Mittelhessen heraus Widerstand mit einer Petition, die kritisiert, dass Jugendliche durch diese Aktion von vornherein den Eindruck vermittelt bekämen, die klassische Familie aus Vater, Mutter und Kind sei nur eine der vielen Möglichkeiten, die eigene Sexualität zu leben. Das Mittelhessenblog hat zu dieser Thematik sowohl die Stadt Gießen wie den Initiator der Petition um Stellungnahmen gebeten. Schon vorher erscheint diese Einordnung in die gegenwärtig laufende Debatte im Internet.
„Liebe wie Du willst“ ist die gemeinsame Aktion Gießens und des Jugendbildungswerks sowie von „pro Familia“ , „Familie muss Mainstream bleiben“ hat der emeritierte Fachhochschullehrer Professor Dr. Wolfgang Leisenberg nun ins Leben gerufen. Auf der Plattform openpetition steht die Petition seit 9. August und hat bereits eine lebendige Diskussion in Gang gesetzt Obwohl auf der Petitionsseite die Liste der Kontraargumente noch länger scheint, nimmt andererseits die Zahl der Befürworter zu. Allein aus dem Landkreis Gießen sind es derzeit 220, die Leisenbergs Anliegen unterstützen, aus dem mittelhessischen Raum sind inzwischen Stimmen aus Wetzlar, Haiger, Asslar oder Eschenburg aus dem Lahn-Dill-Kreis dazu gekommen, Unterstützer kommen inzwischen auch aus Lohra, Fronhausen und die Zahlen steigen Der größte Teil kommt aber immer noch aus allen Teilen Deutschlands. Allein während der Artikel für das Mittelhessenblog verfasst wurde, kamen in einer Stunde zehn neue Unterstützer dazu, vier von ihnen ebenfalls aus dem mittelhessischen Raum. Zu dem Zeitpunkt stand der Zähler bei 1036 ingesamt und 220 aus dem Landkreis Gießen. Aus der Stadt Gießen selber waren es zu dem Zeitpunkt 105, die Leisenbergs Anliegen unterstützen.
Dass ihre Aktion einigen Wirbel verursachen würde, dessen waren sich die Organisatoren sicher. Das wurde am Rande einer Pressekonferenz zur Vorstellung der neu gestalteten Website der Stadt Gießen am 17. Juni deutlich. Gegenüber dem Mittelhessenblog war bei dieser Gelegenheit erklärt worden, es ginge bei dieser Aktion „Liebe wie Du willst“, vorrangig erst einmal darum, Jugendlichen, die entdeckten, dass sie Tendenzen zu homosexuellen Verhalten spüren, den Druck zu nehmen, der sich aus möglichen Folgediskussionen ergibt. Die Aktion hatte bereits kurz danach im Internet für kontroverse Debatten gesorgt. Der Protest gegen die Gießener Aktion wird indes vorwiegend bisher auf Portalen schon vor Leisenbergs Petition dokumentiert, die entweder aus dem christlichen Bereich kommen oder durch ihre Aufmachung eine Nähe zu Gruppierungen am äußersten rechten Rand der Gesellschaft vermuten lassen. So zitiert der katholische Nachrichtendienst den Generalsekretär des evangelischen Fachverbandes für Sexualethik und Seelsorge „Weißes Kreuz“, Rolf Trauernicht mit einem Vergleich der Aktion mit den Zuständen in den biblischen Städten Sodom und Gomorrha. Diesen habe laut Altem Testament, Gott wegen ihres lasterhaften Treibens ein Ende bereitet.
Die in ihrer Aufmachung rechtsgerichtete Plattform Volksberichtshof präsentiert einen Bericht des Gießener Anzeigers über den Auftakt der Aktion „Liebe wie Du willst“ in direkter Umgebung mit Statistiken über den Bevölkerungsschwund in Deutschland. Gleichzeitig wird die Gießener Aktion mit den Dezimierungs- und Vernichtungsplänen von Theodor N. Kaufman in Verbindung gebracht. Kaufman war der Sohn eines jüdischen Verlegers und Herausgebers in Newark , der 1941 durch ein Buch über die Massensterilisation der Deutschen sowie Pläne zur vollständigen Zerstückelung Deutschlands nach dem Ende des 2. Weltkriegs aufgefallen war. Der Titel: „Germany must perish! , was auf Deutsch soviel wie die Forderung des Untergangs Deutschlands ist. Dieses Buch fand seinerzeit kurzfristig im Time Maagzin kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1941 Beachtung, als skurriles Werk. Kaufmans Ideen indes griff die NS-Propaganda auf, um ihrerseits Stimmung gegen die Juden zu machen.
Was das alles mit dem Wirbel zu tun hat, der sich nun von Gießen ausgehend um die verschiedenen Lebensentwürfe abzuzeichnen droht? Die Proteste fallen genauso wie die Aktion der Stadt Gießen und von „pro Familia“ selber in eine Zeit, in der aus den verschiedensten Gründen vor dem allmählich stärker werdenden Bevölkerungsrückgang gewarnt wird. Grundlage sind jüngste Veröffentlichungen von Eurostat über die aktuelle Bevölkerungsentwicklung. Demzufolge stagnieren seit rund 2000 die Zahlen in Deutschland um 81 oder 82 Millionen Einwohner, während zum Beispiel Frankreich und Italien im gleichen Zeitraum von etwas mehr als 60, 5 Millionen Einwohnern auf 65 Millionen (F) und von 56,9 Millionen auf aktuell 60,6 Millionen (I) gewachsen sind. Dazu haben unter anderem besser Geburtenraten in den jeweiligen Ländern beigetragen. In Deutschland dagegen werden unter anderem schlechtere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die stagnierenden oder rückläufigen Geburtenzahlen ins Feld geführt, trotz der Anstrengungen des Bundes, die Bedingungen zu verbessern.
In der Petition gegen die Aktion „Liebe wie Du willst“ nun wird gefordert, dass sich die Stadt und das zu ihr gehörende Jugendbildungswerk aus der Unterstützung als öffentliche Hand zurückziehen, da diese nicht geeignet sei, ihrer Verpflichtung nachzukommen „zum Wohle des gesamten Volkes zu handeln“, wie es von öffentlichen Funktionsträgern geschworen werde.
Die Aktion der Stadt Gießen, des Jugendbildungswerks und von „pro Familia“ kann über diesen Link aufgerufen werden: „Liebe wie Du willst“. Die Petition kann über diese Seite erreicht werden: „Familie muss Mainstream bleiben“
————————————-
Hinweis in eigener Sache
Sorgfältige journalistische Arbeit hat ihren Preis. Sie kostet Zeit, Kraft und Ausgaben für Recherche und Technik. Sie können die Arbeit des Mittelhessenblog für eine unabhängige und freie journalistische Berichterstattung unterstützen: Flattrn Sie das Mittelhessenblog über das grüne Flattr-Symbol neben jedem Artikel oder direkt am Kopf der rechten Spalte. Einzige Voraussetzung: Ein Nutzerkonto bei flattr,
Willi Stenzel meint
Ich bin entsetzt über die Leichtfertigkeit der Verantwortlichen.
In einer Zeit wo Ordnungen und Werte immer schneller zerfallen. Geht men nun zum Frontalangrif direkt auf die Kinder und Jugendlichen über. Wo sämtliche klare Regeln aufgehoben werden, ist davon auszugehen, dass der Anarchie und Gesetzlosigkeit Tür und Tor geöffnet werden. Es geht hier letztlich nicht um Toleranz, sondern um die Zerstörung der Grundfesten unserer Gesellschaft. Dies kann nur in die Katastrophe münden.
Oscar Wilde meint
Und ich bin entsetzt über die Petition, die der Kampagne etwas nachsagt, was überhaupt nicht deren Ziel oder Inhalt ist!
Es geht um Homophobie, es geht darum, dass homosexuelle Jugendliche – wie heterosexuelle Jugendliche „selbstverständlich“ – ein Recht auf eine unbeschwerte Jugend haben, die ihnen nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung seitens Unverständnis der Eltern, Gesellschaft, Religion, etc. erschwert wird. Hat man sich denn mal über deren Situtation informiert?!? Mobbing, eine höhere Suizidrate (gerade bei Jugendlichen in einem konservativem Umfeld), Rückzug, Resignation… all das, weil man sie nicht sein läßt bzw. sie sich nicht selbst entdecken LASSEN WILL, was sie sind! Statt ihnen zu helfen, wird ein Versuch als Werteverfall abgetan (was ist das den für ein Wert, wenn diejenigen aufgrund von Ressentiments leiden?!?) , man spricht von Gefahr für Kinder (mal überlegt, dass das eigene Kind in der Jugend auch homosexuell sein könnte? Was ist das denn bitteschön für eine Einstellung? Wünscht man sich etwa nicht das beste für sein Kind?!?) ohne nachzufragen wie es Jugendlichen geht, wenn sie über ihre homosexuelle Orientierung nicht reden oder fragen dürfen (gerade in einem religiösem Umfeld)…
Warum soll ein Betroffener nicht wissen DÜRFEN, dass es auch gleichgeschlechtliche Paare gibt? Gerade diesen Nicht-Wissen, das Gefühl der einzige zu sein, gerade daran zerbricht manche Jugend eines homosexuellen Meschen.
Und warum spuckt man hier gleich Gift und Galle, klagt über einen Angriff auf die Familie? Familienfeindliche Strukturen gehen von Leistungsdruck seitens Wirtschaft und Politik aus, was hat denn die Kampagne gegen Homophobie bitteschön damit zu tun?!?
Dient es etwa dem „Gemeinschaftswohl“, wenn schwul/lesbische Jugendliche weiter gemobbt werden?!? Davon steigt die Geburtenrate, DAS Schlagwort, mit der die Petition in den „Kreuzzug“ zieht, auch nicht! Es ist sowieso ziemlich unverschämt, hier Schwule und Lesben , die 5–10% der Bevölkerung ausmachen,als Sündenböcke für eine Entwicklung abzustempeln, deren Ursachen anderswo liegen!
Sinkende Geburtenrate dank Einführung der Pille, die Möglichkeit oder der Zwang sich aus beruflichen Gründen gegen ein Kind zu entscheiden… 1–2 oder gleich gar kein Kind, wie es bei den meisten Paaren der Fall ist – ist DAS etwa auch noch Schuld der Schwulen und Lesben? Haben die etwa eine besondere Fähigkeit, die die restlichen 90–95% zwingt sich gegen Kinder zu entscheiden?!?
Lächerlich, den Kampf gegen Diskriminierung (bei der es nicht um eine Besserstellung geht!) mit der sinkenden Geburtenrate zu sanktionieren, da man von Kinderlosigkeit ausgeht – es gibt mehr kinderlose Ehen als es überhaupt Homo-Paare gibt, deren staatliche Förderung als auch Ehe-Status nicht in Frage gestellt wird, nein, zweifelt man das aufgrund DEREN (meist bewusster) Kinderlosigkeit an, zählt das gleich als „familienfeindlich“… vielleicht sollte man erstmal den Dreck vor der eigenen Haustür kehren, eh man auf andere losgeht. Angesichts der homophoben, lächerlichen übertriebenen panischen Reaktion, sollte die Kampagne erst recht weiterlaufen. Sie ist berechtigt. Anstatt sich drüber aufzuregen, sollte man die „Energie“ bitte dazu einsetzen, die Umwelt selber kinderfreundlicher zu gestalten und einfach Kinder in die Welt zu setzen. Und vor allem auch andere machen lassen, es gibt sehr wohl homosexuelle Paare MIT Kindern (soviel zum Vorwurf „homosexuell = keine Kinder = familienfeindlich“), denen man die gleichen Rechte vorenthält; als auch Paare Kinderwunsch, der gerade bei Lesben nicht schwer zu erfüllen wäre, z.B. durch künstliche Befruchtung. Aber man lässt sie ja nicht. Ein Kinderwunsch ist anscheinend auch schon familien/kinderfeindlich. Soviel zur Panik, die Geburtenrate sei zu niedrig und müsse unbedingt steigen – also, was hält sie denn bitteschön davon ab, etwas dazu beizutragen? Ist die eigene Entscheidung etwa davon abhängig, wie andere lieben?!?