Was hat das ostafrikanische Land am Roten Meer, Eritrea mit der Mittelhessen-Metropole Gießen zu tun? Auf den ersten Blick erst einmal nichts. Auf den zweiten schon. Denn Gießen hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Fluchtpunkt von Eritreern herausgebildet. Am 1. März soll eine zentrale Kundgebung von Exiloppositionellen aus Deutschland stattfinden. Gegen verkappte Propagandaveranstaltungen des Landes, die in Deutschland als Kulturveranstaltungen getarnt werden, so der Vorwurf. Dabei soll eine Petition an die Stadt übergeben werden.
Aktualisiert 1. März 7:50 Uhr: Das Auswärtige Amt hat heute eine Teilreisewarnung für Eritrea herausgegeben.
Ausländer werden davor gewarnt, unnötige Reise nach Eritrea zu unternehmen. Menschen mit deutsch-eritreeischer Staatsangehörigkeit werden doppelt gewarnt, weil die deutsche Botschaft in Eritrea so gut wie nicht für sie tun könne, wenn sie in Gefahr geraten. Weiterführende Informationen sind auf der Seite des Auswärtigen Amtes.
Wieso ausgerechnet Gießen? „Das liegt an der zentralen Lage wohl und außerdem ist ja bei uns das Erstaufnahmelager, sagt Klaus-Dieter Grothe. Er ist langjähriges Vorstandmitglied der Flüchtlingshilfe Mittelhessen, im Hauptberuf Kinder- und Jugendpsychiater und außerdem Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Gießener Stadtparlament. Am 1. März 2013 soll nun in Gießen eine zentrale Kundgebung von oppositionellen Exileritreern stattfinden. Ihr Protest richtet sich gegen eritreische Kulturfestivals in den Hessenhallen oder anderen Orten, die für sie eigentlich eine Propagandaveranstaltung sind. Laut Grothe werden rund 300 Teilnehmer erwartet.
Der Protest wird dagegen von Vertreterinnen der eritreischen Frauenunion als Hetze betrachtet. Eriträa sei keine Diktatur. Nur die Befürworter scheinen allein auf weiter Flur zu stehen. Denn die Vorwürfe gegen das Land, das 1993 seine Unabhängigket bekam, reichen von Reporter ohne Grenzen (ROG) über Amnesty International (ai) bis hin zu Open Doors. ROG weist dem Land wiederholt den letzten Platz auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit zu. AI erhebt gleichlautende schwere Vorwürfe und Open Doors weist explizit auf Christenverfolgung in dem 5 Millionen-Einwohner-Land hin. Nichtzuletzt weist das Auswärtige Amt auf die schlechte Lage für Menschen- und Bürgerrechte, besonders darauf, dass es keine organisierte politische Opposition gibt, Regimekritiker seit 2001 ohne rechtsstaatliches Verfahren verhaftet und an geheimen Orten versteckt würden. In Gießen, das für sich in Anspruch nimmt, mit mehr als 128 Nationen eine weltoffene Stadt zu sein, hat die Entwicklung zu einer delikaten Situation geführt. Zum einen hat das Gießener Stadtparlament eine Resolution verabschiedet, in der es am 27. Juni 2012 unter anderem heißt:
- Die Stadtverordnetenversammlung erklärt deshalb, dass Veranstaltungen der oder im Auftrag der eritreischen Regierung
- oder der eritreischen Staatspartei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) oder von Vorfeldorganisationen des Staates Eritrea
- oder der Staatspartei in Gießen nicht erwünscht sind, insbesondere dann nicht, wenn sie beabsichtigen oder geeignet sind,
- den wahren Charakter des eritreischen Regimes und die tatsächliche politische und ökonomische Situation in Eritrea
- propagandistisch zu verschleiern
Zum anderen gibt es die Proteste der Oppositionellen. Sie richten sich gegen die Veranstaltungen, die in den Hessenhallen seit gut zwei Jahren veranstaltet wurden. Diese Kulturfeste seien in Wahrheit Propagandaveranstaltungen der PFDJ, der seit Jahren ohne echte Wahlen regierenden Partei Eritreas. Da die Hessenhallen der Messe Gießen gehören, hat die Stadt dort kaum mehr als die Möglichkeit darauf hinzuweisen, damit nicht einverstanden zu sein. Unklar bleibt allerdings eines: Warum die Stadt Gießen dann in einem anderen Gebäude, in dem sie bisher das Hausrecht als Eigentümerin hat, dennoch eine Veranstaltung der Eritreischen Frauenunion am 16. November 2012 zugelassen hatte. Diese sei am Ende auch zu einer Veranstaltung geworden, in der Diskussionen mit Oppositionellen abgewürgt wurden, kritisiert Grothe. Erschwerend käme hinzu, dass sich die Integrationsbeauftragte der Stadt Gießen, Sholei Sharifi, sich auf die Seite der Vorsitzenden des Ausländerbeirats, Sarah Stefanos gestellt habe. Den kompletten Wortlaut Sharifis hatte am 16. November 2012 ein Team des Jugendnetzwerk Wetzlars aufgezeichnet.
Wie Grothe sagt, hätten viele Eriteer Angst, auch in Gießen, offen zu sprechen. Sie fürchteten Repressalien durch den eritreeischen Geheimdienst, dessen Arm bis nach Gießen reiche. Die Gemeinde orthodoxer eritreischer Flüchtlinge in Frankfurt spricht davon, dass rund 90 Prozent der gegenwärtig rund 30000 in Deutschland lebenden Eritreer Angehörige der orthodoxen Kirche in Eritrea seien. Rund 5000 von ihnen lebten im Einzugsbereich des Rhein-Main-Gebiets. Gleichzeitig ist in Frankfurt der Sitz des eritreischen Konsulats, das für Visa- und andere Anfragen aus Hessen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland zuständig ist.
Die Pressesprecherin der Stadt Gießen, Claudia Boje, verwies angesichts der Fragen nach der Rolle Stefanos auf die Selbständigkeit des Ausländerbeirats. Im Nachgang der Ereignisse des 16. Novembers, hatte die Stadt Gießen aber etwa öffentlich die gute Zusammenarbeit mit der Integrationsbeauftragten unterstrichen.
Am 1. März nun soll am Ende des Protestzugs, der um 14 Uhr an den Hessenhallen beginnen soll, dann über den Kirchplatz weiter zum Rathaus führt, diese Petition an die Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz übergeben werden. Interessant ist allerdings, dass Gießen auf dieser Unterschriftenliste auf 9 Stimmen kommt, während Oslo mit 120 Stimmen der absolute Spitzenreiter ist. Der Hintergrund liegt an der Funktionsweise solcher Onlinepetitionen. Dabei werden die IP-Adressen festgestellt. An ihnen kann man feststellen, woher die meisten Zugriffe kommen.
Weiterführende Links:
- Open Doors
- ROG
- Amnesty International
- Bundeszentrale für Politische Bildung
- Auswärtiges Amt ‑Nähere Informationen Reisewarnung für Eritrea
- Orthodoxe Gemeinde Eritreischer Flüchtlinge Frankfurt
- Botschaft und Konsulat Eritreas in Deutschland
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