In der Tat: Der Platz hat etwas, wenn man die entsprechende Perspektive hat: Unter Sonnenschirmen, wahlweise durch eine große Fensterfront fällt der Blick auf eine große innerstädische Kreuzung. Der Verkehr pulsiert. Menschen flanieren. Die Kulisse wird ergänzt durch einen blauweißen Schönwetterhimmel mit Südwestsonne, die Fassade eines Theaterbaus aus dem 19. Jahrhundert und einer eigenwilligen, schon wieder charakteristisch zu nennenden Bausünde aus den 70ern. Jetzt im wettermäßigen Hochsommer teilweise schmeichelnd verdeckt von Baumblättergrün: Die Rede ist vom Berliner Platz/ Ecke Ostanlage in Gießen. Der beschriebene Blick ist der, den man hat, wenn man sich zu einem Besuch des Bolero entschließt. Direkt neben dem Rathaus. Und wenn man Glück hat, entführt einen das Spiel von Licht und Schatten in eine europäische Metropole. Nach Brüssel. An einen bestimmten Platz. Den, an dem Manneken Pis steht.
Standhaftes Manneken in Brüssel
Manneken Pis in Brüssel ist bekannt. Ein kleines dralles Figürchen, das seit dem 17. Jahrhundert den Brüsselern zu einzigartigem Ruhm verholfen hat, seit dieser Zeit auch immer wieder gerne zu bestimmten Anlässen oder einfach nur aus touristischen Attraktionsgründen kostümiert wird. Als der steinerne Pinkel-Jüngling geschaffen wurde, galt das zu der Zeit als obszön, verrät ein Blick ins Onlinelexikon Wikipedia . Die Figur steht in Brüssel in einer engen Gasse, jedenfalls nicht an einem weitläufigen Platz wie der Berliner Platz einer ist. Die Häuser, die das Brüsseler Manneken Pis umgeben, stammen in der Regel auch aus diesen Zeiten seiner Entstehung und des Weges zur internationalen Berühmtheit.
Flüchtiges Gießener Manneken mit halbfestem Standort
Ob es das Gießener „Manneken Pis auf Zeit“ so weit schaffen wird? Schaun wer mal. Vielleicht ist ja die Landesgartenschau 2014 ein willkommener Anlass, dem aus dem Spiel von Licht und Schatten geborenen Gießener Manneken Pis zur Berühmtheit zu verhelfen. Nämlich anders als das Brüsseler Vorbild ist das Gießener Manneken Pis höchst sensibel und auf die Gunst des richtigen Augenblicks angewiesen. Und wenn man auf die Schonung der Energieressourcen setzt, hängt das Gießener Manneken Pis von der Sonne und dem richtigen Winkel ab, in dem das Sonnenlicht das Manneken Pis zum Leben erweckt. Denn anders als das Brüsseler Manneken Pis wandert das Gießener ein wenig auf dem Berliner Platz herum. Aber wirklich nur ein wenig.
Wie das kommt? Wohl eher zufällig. Denn eigentlich ist das Gießener Manneken Pis wohl keine Absicht gewesen. Oder doch? Denn verantwortlich ist eine moderne Skulptur einer geschlechtsneutralen besenschwingenden Figur direkt vor dem neu erschaffenen Gießener Rathaus. Um auch außen Wasser zapfen zu können, wurde an der Außenwand des Gießener Rathauses ein Wasserhahn angebracht. Vielleicht kommt der ja jetzt zu neuen Ehren. Zeitweise vielleicht. Immer dann, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel zu einer bestimmten Tageszeit mit ihrem Schattenspiel beginnt und das Gießener Manneken Pis zum Leben erweckt. Nämlich genau dann, wenn der Schattenwurf die Beine der Skulptur so darstellt, dass der Wasserhahn samt eigenem Schatten genau in der Mitte zu sehen ist. Fehlt dann eigentlich nur der Befehl: „Wasser marsch!“.
Löscharbeit für „gegrillte“ Rathausmitarbeiter?
Vielleicht für fällige Löscharbeiten an Mitarbeitern des Gießener Rathauses: Passend zur Tatsache, dass bei der Auswahl der Architekturentwürfe für den Rathausneubau nicht der gewählt wurde, der den ersten Preis gewonnen hatte, sondern ein anderer. Eines des Resultate: In einigen Teilen des Gebäudes werden Mitarbeiter der Stadtverwaltung gegrillt, wenn die Sonne scheint. Aber vermutlich wurde daran genauso wenig gedacht, wie an den Manneken-Pis-Schattenwurf. Aber das ist eine andere Geschichte. Ebenso wie die, ob die Gießener Landesgartenschau nun tatsächlich sinnvoll ist, außer dem vorübergehenden Effekt für einige Firmen eine gute Einnahmequelle zu sein ‑oder ob es vielleicht besser gewesen wäre, das Geld in den Ausbau des Schulstandort Gießen zu stecken. Das Blöde ist nur: Der positive Effekt eines guten Schulstandorts lässt sich erst später wirklich messen – die kurzfristige Wirkung einer Landesgartenschau schon früher. In den Portemonnaies beteiligter Firmen. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
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