Auschwitz ist nicht nur in Polen. Es ist auch in Mittelhessen. Es ist überall. Vor unserer Haustür. In unseren Familien. So oder so.
Nachdenken über Auschwitz: Es ist eine merkwürdige Sache, Gedanken zu einem Ort zu formulieren, der seine Berühmtheit einer unmenschlichen Barbarei zu verdanken hat. Möglicherweise fällt dieser Text hier aus dem Rahmen. Vollständig aus dem Rahmen. Denn er ist weniger ein Kommentar als eine These: Lasst den Toten ihre Ruhe. Und er taucht ab in die eigene Familiengeschichte des Herausgebers des Mittelhessenblog. In der Hoffnung, das andere den Mut haben, gleiches zu tun und sich immer noch vorhandenen finsteren Kapiteln der eigenen, sehr regionalen Geschichte stellen. Und das konkret und nicht rein akademisch.
Macht Orte wie Auschwitz nicht zu einem Instrument einer ständigen Immer-Wieder-Schau oder Show. Das haben die Menschen, die dort vernichtet wurden, nicht verdient. Ihr Tod, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Sinn sprechen darf, hat wenn, dann nur einen Sinn: Sich der eigenen Familiengeschichte zu stellen. Die eigenen Eltern, Großeltern und wenn sie noch leben sollten, die Urgroßeltern zu fragen. Was war? Was sie erlebt haben. Dass dies im Zweifelsfall manche gehegte Illusion zerstört, ist das Risiko. Aber das ist weniger schlimm als das Vertrauen all dieser Menschen, die im Glauben, man würde ihnen eine neue Heimat zuweisen, in die Züge stiegen und die Lager als Seife, Dünger verließen oder vorher missbrauchte medizinische Versuchsobjekte waren.
Es ist einfach, Schulfahrten nach Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen oder eben nach Auschwitz zu unternehmen.
Dabei muss man hier in Mittelhessen gar nicht so weit fahren, um zu wissen, zu welchem Wahnsinn das NS-Regime fähig war: In Hadamar war eine zentrale Tötungseinrichtung, in der Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet wurden. Hadamar zugeordnet waren Anstalten in Herborn und Weilmünster. Nähere Einzelheiten hierzu stehen bei Wikipedia. Auch in Hadamar wurde wie in Auschwitz eine Gedenkstätte eingerichtet. Im Gegensatz zu Auschwitz wurde in Hadamar erst am 26. März 1945 der Tötungsbetrieb durch die einrückenden US-Streitkräfte beendet.
Nur: Egal ob Auschwitz oder Hadamar oder einer der anderen Orte, die daran erinnern sollen: Es nutzt nichts, wenn dieses Erinnern lediglich eine Feigenblatt-Funktion hat und ein Alibi ist, sich nicht der eigenen individuelle Familiengeschichte zu stellen. Es dürfte interessant sein, herauszufinden, ob Grundstücke, Häuser oder Firmenbesitz, die heute die Basis der eigenen Existenz sind, möglicherweise mit dem Blut der Nachbarn bezahlt wurden – in der Hoffnung, dass es danach keiner mehr merkt. Ebenso dürfte interessant sein, herauszufinden, ob in der eigenen Verwandtschaft Menschen sind, die wohl wussten, welchem Buben sie hinterherliefen und an der einen oder anderen Schaltstelle der Macht saßen und ihm halfen, sich so im Sattel zu halten. Die Ausrede: „Das konnten wir ja nicht ahnen“, die gilt nicht.
Man musste kein Historiker wie der Urgroßvater des Verfassers dieser Zeilen sein, um zu wissen, was vor sich ging, zu ahnen, was am Horizont der Endzwanziger Jahre heraufzuziehen begann. Man musste lediglich die Messlatte normalen menschlichen Mitempfindens ansetzen, um zu erahnen, was sich abzeichnete. Natürlich gehörte Mut dazu, zu sagen: „Da habt Ihr Euren Bettel, ich mach bei Euch nicht mehr mit, wenn Ihr solche Verbrecher seid“ wie es der Großvater
des Schreibers dieser Zeilen tat. Nur hätte es mehr Mutige gegeben, dann wäre die dann folgende Katastrophe nicht geschehen.
Und es gibt noch eine Mär, die gerne erzählt wird: „Wir mussten als Kinder ja mitmachen“. Nein musste man nicht: Es ist wiederum der Vater des Schreibers dieser Zeilen, der die HJ einfach schwänzte. Nicht mitmachte.
Und der auch zu einem anderen Mythos, der heute zum Glück erledigt ist, bereits in den 70er sagte: Es musste keiner zu Waffen-SS. Da konnte man sich freiwilllig melden. Und viele machten das.
Er selber drückte sich um den Eid auf Hitler und erlebte schließlich als Luftwaffenoffiziersanwärter die Grauen, die fanatische Wehrmachts- und Waffen-SS-Soldaten anrichteten – weitab von der zentralen Tötungsmaschinerie. Mit einer der Gründe, wieso er nach dem Krieg in Berlin in dem noch jungen Landesamt für Verfassungsschutz in Berlin und dessen Vorläuferorganisationen sich für die Bekämpfung alter Nazis und von Neonazis einsetzte. Auf sein Konto geht maßgeblich die Zerschlagung der NSDAP-Nachfolgepartei Sozialistische Reichspartei von Otto Remer. Dies war 1952. Ein Jahr später wurde Hans Globke Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer, ein Grund, weswegen damals die gesamte Abteilung des LfV Berlin den Dienst quittierte. Es hatte keiner Lust, unter einem Altnazi gleich mit einer Lüge zu arbeiten, erinnerte er sich rückblickend gegenüber seinem Sohn.
Dem Großvater wurde die intellektuelle Dummheit eines konservativen Bürgerlichen zum Verhängnis: Am Anfang lief er zum Ärger seines Vaters den Nationalsozialisten hinterher. Bis er erkennen musste und erlebte, was die Nationalsozialisten tatsächlich vorhatten und ihnen das Parteibuch zerrissen vor die Füße warf, fortan jüdischen Familien und Freunden aus seinem Bekanntenkreis half, der Todesmaschine des NS-Regime zu entfliehen. Dass er selber nicht zusammen mit seiner Familie ins KZ eingeliefert wurde, hatte er Freunden beim Oberkommando der Wehrmacht zu verdanken. Gleichzeitig musste er erleben, wie seine Bücher „passend“ von der NS-Administration umgeschrieben und unter seinem Namen weiter veröffentlicht wurden. Dass er ein NS-Opfer war, wurde ihm von den Alliierten bescheinigt. Was die deutschen kommunistischen Nachfolger, die er ebenso wenig wie die Nazis unterstützen wollte, nicht kümmerte. Weswegen er in politischen Schauprozessen zu Zuchthaus verurteilt und enteignet wurde. Und hinterher, nachdem er nach seiner Entlassung in den Westen geflohen war, erfahren musste, dass sich bei der Regierung Adenauer niemand für diese Erfahrung interessierte, die er als Notiz für die jüngere Kulturgeschichte Deutschlands festgehalten hatte. Dies war 1953. Der Zeitpunkt, als Hans Globke die rechte Hand Adenauers wurde. Der gleiche Globke, der verantwortlich für die Nürnberger Rassegesetze war, gegen die der Großvater des Schreibers dieser Zeilen als Wahnsinn protestierte ‑die Gesetze, die unter anderem den Rahmen für die Tötungsmaschinerie in Hadamar, Bergen-Belsen, Auschwitz schufen. Dieser Globke machte Karriere.
Wie ein anderer Nazikarrierist, der vorher zuletzt Beauftragter der Reichsbahn für die deutschen Ostgebiete und die späteren ab 1938 völkerrechtswidrig besetzten Gebiete war (Quelle: Familienarchiv) :
Der Bruder des Großvaters, also der Großonkel des Schreibers dieser Zeilen. Jener wollte von seinem als in der DDR verurteiltenpolitischen Häftling nichts mehr wissen. Ob er in seiner neuen Heimat Plettenberg im Sauerland die Distanz wahren wollte, die ihm bei seiner neuen Position als Direktor der größten Privatbahn in der damaligen mittleren Bundesrepublik vielleicht ratsam schien – zu einem von der DDR-Justiz Abgeurteilten? Seine Vita jedenfalls wurde geschönt. So wie andere Lebensläufe in dieser Zeit.
In Auschwitz und den anderen Grauenorten der NS-Herrschaft starben die Menschen mehr oder minder sofort – die politischen Gefangenen der anderen deutschen Diktatur starben mit Langzeitwirkung ‑an den Folgen der zu Unrecht erlittenen Haft. Es sollte nicht mehr vorkommen in unserem Land, dass Menschen verfolgt werden und im Extremfall sterben. Wobei letztlich auch die Vernichtung der sozialen und wirtschaftlichen Existenz als Tod bezeichnet werden kann. Nur dass dies eher von der Gesellschaft akzeptiert wird.
Wolf Dietrich Groote meint
Sehr geehrter Herr von Gallera,
was Sie über die Tätigkeit Ihres Großonkels Joachim von Galléra in Plettenberg schreiben bedarf einer geringfügigen Korrektur:
Die Plettenberger Kleinbahn war natürlich nicht eine der größten Privatbahnen in der Region, sondern einer der kleineren Betriebe.
Er hatte übrigens 1964 nach der Umstellung auf Straßenverkehr eine broschierte Geschichte der Bahn herausgegeben: „PKB 1896 – 1963 Geschichte der Kleinbahn von der Gründung bis zur Umstellung auf Straßenverkehr“, erschienen 1964 im Eigenverlag der PKB – online eingestellt auf der Internseite Plettenberg-Lexikon (wenn noch einsehbar, weil der Betreiber zwishenzeitlich verstorben ist).