Liebe Mittelhessenblogleser: Da ist er nun, der 3. Oktober 1990. 20 Jahre danach. Die offiziellen Termine zur Einheit dürften sich heute quer durchs Land aneinander reihen wie die Perlen auf einer Perlenkette. Das Mittelhessenblog wagt einen Blick zwischen die Zeilen und Bilder und überlässt die Berichterstattung über die vielfältigen Jubelveranstaltungen den klassischen Medien. Denn eigentlich, so die bescheidene Meinung des Kommentators, wäre eher ein Moment des Insichgehens als der großen Feuerwerke und staatstragender Reden angebracht.
Präsident der Kanzlerin – Präsident des Volkes
Gewiss, es ist schön, dass wir von Aachen nach Görlitz reisen können, ohne dass es ein mulmiges Gefühl beim Passieren einer von Ost Richtung West streng bewachten Grenze gibt. Und wahr ist auch, dass sich die Politik in diesem Land nach 20 Jahren durchmischt hat. Bestes Beispiel ist die Tatsache, dass die Richtlinien der Bundespolitik zum ersten Mal von einer Frau bestimmt werden, Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wahr ist aber auch, dass ein Mann, der sich um das höchste Amt im Staate bemüht hat, und wie Merkel bis vor 20 Jahren in der DDR wohnte, dort dann als Bürgerrechtler für Freiheit und Demokratie eintrat, heute nicht Bundespräsident ist. Die Rede ist von Joachim Gauck. Wäre es nach dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands gegangen, würde jetzt Gauck in Schloss Bellevue residieren und nicht Christian Wulff. Bezeichnend ist es, dass der Westdeutsche Wulff in Bremen spricht und der Mitteldeutsche Gauck in Berlin.
Westdeutsch-Ostdeutsch-Mitteldeutsch?
Die Begrifflichkeiten vermischen sich. Will man sich an die politische Korrektheit halten, so verschieben sich die Definitionen. Denn was tatsächlich das in einer jahrhunderte alten Geschichte und Kulturtradition gewachsene Ostdeutschland ist, ist spätestens mit der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie nach heutigen geopolitischen Ordnungsbegriffen nicht mehr ostdeutsch, sondern polnisch, tschechisch oder russisch. Und das was ehedem Mitteldeutschland war, ist nach diesen Begrifflichkeiten also Ostdeutschland. Es ist aber vermutlich eher anzunehmen, dass sich in den Köpfen und Herzen der Menschen ein Begriff wie Mittelhessen etabliert als die seit 20 Jahren neuen Begrifflichkeiten einer neuen deutschen Regionalunterteilung in West-Mitte-Ost in den heute gültigen Staatsgrenzen. Vermutlich ist es besser, nur noch von Deutschland zu sprechen. In Begriffen wie der Mitteldeutschen Zeitung oder dem Mitteldeutschen Rundfunk lebt die überkommene Begrifflichkeit allerdings weiter. Nur, blickt man hinter diese Kulissen, wird man feststellen, dass die Musik in den Chefetagen dieser Unternehmen heute von „Wessis“ gespielt wird. Gleiches gilt übrigens für viele Unternehmen und Produkte, die aus dem „Osten“ stammen und es bis auf wenige Ausnahmen auch heute noch nicht über die ehemals innerdeutsche Grenze geschafft haben.
Freiheit, die ich meine.….
Die jüngsten Ereignisse um die Proteste gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt werfen zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit einen düsteren Schatten auf den Umgang mit Bürgerrechten im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Während quer durch die Medien, sowohl die klassischen wie die modernen, ein Kopfschütteln und Raunen ging, gefragt wurde, wo die Rechtfertigung für einen derartigen massiven Einsatz gegen demonstrierende Bürger liegt, lehnte die Koalitionsmehrheit aus CDU und FDP im Bundestag den Antrag auf eine „aktuelle Stunde“ durch die Oppostion ab. Zum besseren Verständnis: Die Aktuelle Stunde behandelt Themen, die in der Öffentlichkeit von allgemeinem Interesse sind oder finden im Anschluss an eine Debatte im Bundestag statt, zu der eine Fraktion noch Fragen hat. Die Ereignisse von Stuttgart sind in der Tat von sehr öffentlichem Interesse, geht es doch um die Frage, wie im Einheitsdeutschland der Bürger oder schlichtweg das Volk seine Meinung noch ausdrücken darf und sich Gehör verschaffen darf. Die Frage, die sich unwillkürlich aufdrängt: Was geschieht in den Fragen der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, die ebenfalls von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, was geschieht mit dem Ausgleich noch bestehender sozialer Ungereimtheiten zwischen dem ehemaligen alten bundesrepublikanischen und dem ehemaligen DDR-Gebiet, was kommt auf Deutschland in der Islamdebatte zu? Die Kluft zwischen dem Wollen der von nur noch Wenigen gewählten politischen Vertreter Deutschlands und dem, was politisch von der Mehrheit der Bevölkerung Deutschland anscheinend gewollt wird, könnte gegenwärtig wohl größer nicht sein. Im Jahr 20 der deutschen Einheit eher ein Grund, nachzudenken als zu feiern.
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