Liebe Mittelhessenblogleser: Julian Assange scheint der Robin Hood unseres modernen Medienzeitalters mit schnellen Datenverbindungen, Internet und Cyberwar zu werden. Im Blog „Webevangelisten“ des Medienpädagogen Thomas Pfeiffer findet Assange nun eine neue Würdigung als „Terrorist“. Pfeiffer stützt sich auf verschiedene Veröffentlichungen Assanges aus dem Jahr 2006, dem Gründungsjahr von Wikileaks. Hieße der Titel bei Webevangelisten „Ist Julian Assange ein Terrorist?, dann wäre dies eine hervorragende Grundlage, dies in einer Diskussion zwischen Redaktion und Leserschaft herauszuarbeiten, den Versuch einer Antwort zu finden. Stellt Pfeiffer in seiner Analyse fest, Assange sei ein Terrorist, so hält das Mittelhessenblog mit einer Frage dagegen: „Ist Julian Assange Terrorist oder ein moderner Anarchist?“
Thomas Pfeiffer hat mit seiner wörtlichen Definition sicherlich zunächst nicht unrecht: Terrorist heißt in der Grundbedeutung, dass es sich um einen Menschen handelt, der mit seinem Handeln „Angst und Schrecken“ verbreitet. Nur, wie er das tut, darin zeigt sich, ob es tatsächlich terroristisches Handeln ist oder ein Handeln, das seine Berechtigung davon ableitet, für die Freiheit des Wortes zu sorgen und damit für eine Grundlage modernen demokratischen Denkens und Handelns.
Man kann sicherlich auch trefflich darüber streiten, ob Wikileaks Anspruch, d i e Enthüllungsplattform Nr. 1 zu sein, tatsächlich noch erfüllt. Denn wie es aussieht, scheint mit der Strafverfolgung Assanges wegen der Anschuldigung, ein Vergewaltiger zu sein, dieser auch sein Auftreten und Verhalten zu ändern.
Stellte die Veröffentlichung der Dokumente zum Irak-Krieg sicherlich noch eine aufsehenerregende Publikation dar, so hat die augenblickliche geballte Veröffentlichung der Depeschen des diplomatischen Dienstes der USA die Natur eines Spiels zwischen Assange zwischen den Leuten, die ihm ans Leder wollen und Assange selbst. Denn offen gestanden: Was Assange in den Wochen vorher mit einem gewissen Pathos ankündigte, brachte in vielen Fällen höchstens ein „Aha, ist ja interessant, aber tut nicht wirklich weh, ist nur peinlich“ als Reaktion. So peinlich, dass Wikileaks selber Spott- und Karikaturistenvorlage wurde. Eine gute Zusammenfassung bringt hier Daniel Stahl in seinem Blog unter dem Titel Wikileaks deckt auf: Auch Diplomaten tratschen . Wie man satirisch direkt zum Gegenangriff auf Wikileaks und damit letztlich auf dessen Gründer Julian Assange übergeht, beschreibt Wolfgang Michal in Carta: Sieben todsichere Methoden, Wikileaks zu erledigen. Eine Satire . Stahl und Michal stehen mit ihren Beiträgen in der Suchmaschine Forestle direkt an erster und zweiter Stelle. Wer sich die Mühe gibt und in der Suchmaschine die Suchworte „Satire über Wikileaks eingibt, wird von der Wucht der gefundenen Links geradezu erschlagen. Höchstens das könnte also ein terroristischer Akt sein.
Wer sich dagegen auf die Suche nach Satire über die Taten der RAF begibt, wird erstens feststellen wie ungleich geringer die Trefferquote bei Forestle ist (Suchworte: „Satire über die RAF“) und zum zweiten, dass, wenn Satire breit gestreut wurde wie etwa von Stefan Raab, dann hagelte es Proteste: Nicht gegen die RAF an sich, sondern gegen die Satire, die gleichermaßen die Politiker und die Opfer verunglimpfe.
Also noch einmal die Frage: „Ist Julian Assange ein Terrorist?“ : Ein Mann, der angetreten ist, der Welt eine Enthüllungsplattform zu geben und nun mit seinem jüngsten groß angekündigten Coup zumindest unter den Medienfachleuten dieser Welt höchstens für Verwunderung, Kopfschütteln und allenfalls mildes Lächeln sorgte, ist sicherlich alles, aber eines nicht: ein Terrorist. Dass öffentlichkeitswirksam symbolische Köpfe rollen, wie etwa der des Büroleiters Helmut Metzner, ist nicht die Folge eines terroristischen Aktes. sondern beleidigter Eitelkeit. Denn umgekehrt ist es ein alter Hut: Wer annimmt, dass der Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst ihre Fühler nur zur Beobachtung verfassungsauffälliger Menschen oder zur Abwehr chinesischer Wirtschaftsspione einsetzen, befindet sich auf dem Holzweg. Die Beobachtung der sogenannten befreundeten Dienste, ihrer Regierungen und Botschaften gehört genauso zum Geschäft. Dieses an und für sich ist auch kein Politikum. Dazu wird es erst, wenn die Macht, die sich daraus ergibt, missbraucht zu werden droht. Genau aus diesem Grund ist es richtig und wichtig, dass es solche Plattformen wie Wikileaks gibt, dass es die so genannten „Whistleblower“ gibt, ohne die Journalisten nicht investigativ arbeiten könnten. Assange und seine Mitstreiter mögen deswegen, wie Thomas Pfeiffer richtig schreibt, für Angst und Schrecken bei den Verantwortlichen in den Schaltzentralen des politischen Systems sorgen, nämlich dem der US-Administration. Den anderen Mitspielern in diesem Spiel ist höchstens ein Licht darüber aufgegangen, wie die Repräsentanten der einstigen Supermacht USA tatsächlich über ihre Verbündeten denken. Das mag auch schrecklich sein, begründet aber noch lange nicht die Eigenschaft Assanges als Terrorist.
Geht man hingegen von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Anarchist“ aus, als einem, der jegliche Form von Herrschaft ablehnt, so könnte dies eher auf den heute 39-jährigen Assange zutreffen. Mit seinem Versuch, eine Plattform zu schaffen, auf der brisantes Material aus dem Dunstkreis der internationalen Macht veröffentlicht wird, unterläuft Assange auf jeden Fall wichtige Funktionen moderner Machtapparate. Er trifft sie dort, wo sie am wenigsten damit rechnen: In ihrer technischen Kommunikation und, wie es scheint, bei Menschen, die in irgendeiner Form mit diesen Machtapparaten unzufrieden sind oder es als prickelndes Abenteuer empfinden, durch echte oder vermeintliche Enthüllungen plötzliche ein große Rolle spielen. Und damit erfüllt Assange zumindest einen Teilaspekt dessen, was einen Anarchisten ausmacht. Ihn deswegen als Anarchisten bezeichnen zu wollen, wäre aber mindestens so abwegig oder genauso richtig wie die Bezeichnung „Terrorist“.
Es gibt in der Diskussion über Wikileaks mindestens zwei weitere interessante Aspekte: Der Mechanismus, nach dem Wikileaks arbeitet , ist älter als das Internet: Organisierte staatliche geheimdienstliche Arbeit gibt es seit der Zeit der Pharaonen, also seit einer Zeit, als die Kultur der Antike gerade im Entstehen war. Einen guten Einblick in die Geschichte der Spionage liefert immer noch das Werk von Janusz Piekalkiewicz, auch oder weil dieses gerade noch in der Endzeit der Blocksysteme von Ost- und West erschienen ist: Weltgeschichte der Spionage, 1988, Südwestverlag München.
Und auch Wikileaks selbst ist eigentlich von der Idee her nichts Neues: Bereits seit Mitte der 90-er Jahre gibt es eine andere Organisation, die ebenfalls von den USA heraus operiert und in dieser Zeit bereits diverse brisante Informationen über das Internet publiziert. Entstanden war diese Organisation wenige Jahre nach dem ersten Golfkrieg der USA 1991 im Irak. Der Name der Organisation „Cryptome.org“, gegründet von John Young. Auch diese Seite ist mindestens im Netz so bekannt wie nun die von Wikileaks. Was aber beide unterscheidet: Während Assanges Plattform nun sozusagen auf der Flucht ist, hält sich cryptome.org seit seinem Bestehen, trotz zahlreicher Versuche, die Seite zu stören. Inzwischen gewährt cryptome.org auch wikileaks immer wieder Aysl und hält über die neuesten Verbindungen zu Wikileaks auf dem Laufenden.
Zu Thomas Pfeiffer und den Webevangelisten geht es hier entlang.
Thomas Pfeiffer meint
Hallo,
vielen Dank für diese ausführliche Betrachtung. In der Tat schwingt in dem Ausdruck „Terrorist“ sehr viel mit: Bärtige Krieger mit Turban und Kalaschnikow, früher auch mordende Kinder der deutsche Mittelschicht (RAF). Das ist Assange nicht.
Aber was macht einen modernen Terroristen aus? Wie sieht ein Krieger im Informationskrieg, im Cyberwar aus? Ist Wikileaks nicht eine neue Art von Akteur in unserer Welt? Evtl. verfängt der Begriff Terrorist hier dann tatsächlich nicht.
Aber auch die RAF, die viele als Terroristen bezeichnen (und nur wenige als Freiheitskämpfer) haben nicht die unschuldige breite Masse auf dem Oktoberfest oder in einem New Yorker Hochhaus angegriffen, sondern sich gezielt Menschen mit viel Macht als Ziele ausgesucht und mit subversiven Mitteln einen asymmetrischen Kampf aufgenommen. Insofern gleichen sich Andreas Baader und Julian Assange – nur die Waffe des letzteren sein Laptop ist.
Christoph von Gallera meint
Guten Morgen lieber Thomas Pfeiffer,
es ist in der Tat eine Defintionsfrage: Bislang sind Terrroristen im üblichen Sprachgebrauch diejenigen, die mit Feuerwaffen, Sprengstoff oder potentiell auch mit Biowaffen und nuklearen Waffen drohen und Leid bringen können. Dass fanatische Glaubenskrieger, ob sie nun im Zeichen des Kreuzes, Halbmonds oder sonstiger Symbole Menschen umbringen, Terroristen sein können, darüber besteht wohl kein Zweifel. Dass einer wie Assange diese Definition nicht erfüllt, dürfte auch auf der Hand liegen. Möglicherweise aber eine andere. Die muss wohl aber erst noch gefunden oder definiert werden.