„Ich war gerade in Hebron. Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum. Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt“. Dieser Facebook-Eintrag des deutschen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vom 14. März sorgte für Aufregung. Dass Gabriel mit seinem Eindruck allerdings nicht allein da steht, dafür gibt es genügend andere Zeitzeugen. Gerade aus Gießen ist ein Name bekannt, der über Gießen Grenzen hinaus für die Wiederbelebung jüdischen Lebens bekannt ist. Und gleichzeitig für Toleranz zwischen Religionen und Menschen steht. Die Rede ist von der Familie Altaras. Vom Gießener Radiologen Professor Dr. Jakob Altaras und seiner Frau, der Architektin und Bauhistorikerin Thea, deren Name maßgeblich für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde und Synagoge in Gießen steht. Einen anderen Aspekt führt die Historikerin Dr. Katrin Steffen in die Debatte ein. Steffen, die ihre wissenschaftlichen Grundlagen der Slawistik und der Osteuropäischen Geschichte unter anderem in Gießen erworben hat, fragt, ob die Juden letztlich nicht die Europäer im besten Sinne waren. Zudem: Im 18. Jahrhundert lebten 80 Prozent aller Juden auf der Welt in Polen-Litauen, so Steffen.
Es ist ein schwieriges Thema. Kritik an offizieller israelischer Politik. Gerade in Deutschland. Und Menschen, die sicherlich jeder extremen Gesinnung unverdächtig sind, geraten aber unweigerlich in den Verdacht, genau solche Gedanken zu haben, wenn sie kritische Worte über die offizielle israelische Politik fallen lassen. Davor schützt sie auch kein hohes Amt, oder gerade dann nicht.Das jüngste Beispiel ist SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel. Dieser war in Hebron gewesen, hatte dort die unmittelbaren Folgen der israelischen Siedlungspolitik erlebt und dies in seinem Facebook-Profil als Apartheid-Politik bezeichnet. Das Echo ließ nicht lange auf sich warten. Nun berichtete Gabriel, dass er sich zu einem mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann telefonisch unterhalten habe. Sie wollten sich alsbald treffen, um Missverständnisse auszuräumen. Ebenfalls wolle er sich mit dem israelischen Botschafter in Deutschland treffen. Das war 16. März 2012 gewesen. Man darf gespannt sein, was das Ergebnis dieser Unterredung sein wird. Vor allem dann, wenn Israel noch in einem anderen Fall seine umstrittene Politik fortsetzen wird – mit einem Angriff auf den Iran. Mit seiner Kritik steht der SPD-Chef indes nicht allein da. Im Gegenteil, er greift Kritiken auf, die bereits in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts gerade im linken politischen Lager gepflegt wurden.
Über Israel zu schreiben und Kritik an der offiziellen Linie zu üben, ist dennoch schwierig. Vor allem dann, wenn sich in der Entstehung des heutigen modernen israelischen Staates und der Politik der Existenzabsicherung dieses Staates zwangsläufig Parallelen auftun, die eigentlich bei anderen Staaten, die eine vergleichbare Politik betreiben, dann die Vokabeln Genozid (Völkermord) und Faschismus rechtfertigen. Etwa die so genannten ethnischen Säuberungen der beginnenden 90-er Jahre auf dem Balkan, die türkische Politik gegenüber Kurden, die Verfolgung der Armenier, um nur die prominentesten Beispiele zu nennen.
Als die neue Gießener Synagoge im August 1995 eingeweiht wurde, sagte Altaras damals, mit der Synagoge sollten Brücken zwischen den Menschen gebaut werden. Und er stellte fest: „Wir sind wieder da. Die Nazis haben nicht das letzte Wort gehabt“. Mit diesen Worten wird er in der Ausgabe der Welt vom 26. August 1995 zitiert. 17 Jahre später bringt in der gleichen Zeitung, der Publizist Henryk M. Broder eine Querschau auf Blätter des linken politischen Spektrums der 70er Jahre des 20. Jahrhundert und wirft der heutigen deutschen Presse vor, sie habe sich den Antisemitismus der linken Presse bewahrt, nur dass eben nicht von Antisemitismus die Rede, sondern von Antizionismus, außerdem habe sie sich, das gelte gleichermaßen für Blätter wie die FAZ oder die taz, ihre Eigenschaft als „Anti-Imperialisten“-Sprachrohr bewahrt. Broders Beitrag in der Welt ist ein Vorabdruck aus seinem Buch „Vergesst Auschwitz“. Broders Position ist klar. Er erteilt Kritikern, die das Vorgehen Israels mit eben diesen Vokabeln „Genozid“, „Faschimus“ und ähnlichen belegen, eine Abfuhr. Eine vollständig andere Position als die des Gießeners Altaras.
Ein nüchterner Blick auf die Entstehung des heutigen Staates Israel wirft zumindest die Frage auf, ob die Politik der Herauslösung eines Gebietes von 77 Prozent des ehemaligen Palästina unter britischer Mandatschaft auf Betreiben der UNO und die Anerkennung dieses Staates sowohl durch die USA wie die UdSSR im Grunde nicht ein gewaltiger Anachronismus war. 1937 waren sowohl die jüdischen wie auch die arabischen Palästinenser gegen die Trennung ihres Gebietes in zwei Teile gewesen. Die Stimmung kippte nach der Vernichtungspolitik der Nazis 1942. Dabei darf man nicht vergessen, so makaber dieser Gedanke auch ist, dass ein Land wie die Schweiz oder andere westliche Länder, als die Lage für die jüdische Bevölkerung in den von den Nazis kontrollierten europäischen Gebieten immer schlimmer wurde, die Aufnahme dieser Flüchtlinge ablehnte. So heißt es im antifaschistischen Infoblatt: “ Die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen lehnten die westlichen Staaten ab. Um dies nicht zu offensichtlich werden zu lassen, gründeten sie das Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC) mit Sitz in London. Das von den Konferenzstaaten gemeinsam betriebene IGC betrieb eine Politik der Abweisung verfolgter Juden – selbst als in der westlichen Welt erste Nachrichten über den Holocaust bekannt wurden. Das IGC steht heute für das Versagen der westlichen Welt im Angesicht des Holocaust“ Während also einerseits auf maßgebliches Betreiben westlicher Staaten auf die Schaffung eines jüdischen Staates hingearbeitet wird, erfahren die jüdischen Flüchtlingen im gleichen Zeitraum Ablehnung durch eben diese Staaten.
Einen interessanten Aspekt in diese Debatte führt Dr. Katrin Steffen ein. Die Historikerin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Nordost-Instituts Lüneburg. In einem 2006 veröffentlichten Essay zum Geschichte der Juden in Osteuropa lässt sie den Schriftsteller Amoz Oz zu Wort kommen. Oz beschreibt seinen Onkel, der in den 30-er Jahren des 20.Jahrhunderts in Wilna (heute: Vilnius)lebte, „als überzeugten Europäer in einer Zeit, als kein Mensch in Europa sich als Europäer fühlte“. Steffen bringt ganz nebenbei noch eine ganz andere Frage auf: Was überhaupt ist Europa?. Schon 1964 schreibt der damals als „Neuer Rechter“ eingestufte belgische Politiker Jean Thiriart in einem seiner Hauptwerke „Un Empire de 400 Millions d’Hommes“ davon, dass die Zerlegung Europas in einen Westen und einen Osten nichts weiter als ein reiner von außen aufgezwungener Willkürakt sei. 1964 zeichnet der Belgier mitten während des Kalten Kriegs ein Bild von einem Europa, das von Brest bis Bukarest reichen soll, der Weg dahin: eine einige Politik auf demokratischem Fundament. Steffen schreibt 2006, dass der Begriff „ ‚Europa‘ keine eindeutigen und allgemein akzeptierten politischen, geografischen oder kulturellen Grenzen kennt“. Auch der Begriff Osteuropa sei nicht eindeutig zu definieren. Er werde pauschal verwendet. Der britische Historiker Eric Hobsbawm sprach von dieser Problematik bereits während der Eröffnung des akademischen Jahres 1993/94 an der Mitteleuropäischen Universität in Budapest. Es gebe keine scharfe Trennlinie zwischen West- und Osteuropa (Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, S.15, dtv, Juli 2001).
In diesem Europa, dessen Grenzen und kulturellen Selbstverständnisse so höchst unterschiedlich geprägt waren, stellten, so Steffen, die jüdischen Europäer das verbindende Element dar und gleichzeitig auch den Spiegel für die ungeheure Vielfalt. Die Verfolgung der Juden in Europa sei genauso Teil der europäischen Geschichte wie auf der anderen Seite ihre Anpassung an jeweilige lokale Gegebenheiten, ihr kultureller Beitrag zur Gesellschaft.
Mithin kann die Frage erlaubt sein, ob die Wurzeln für das Drama, das sich seit nun nahezu wieder einem ganzen Menschenleben im israelisch-palästinenischen Gebiet abspielt, letztlich nicht auf einer Politik des Biegen und Brechens, des „Nicht-Miteinander-Reden-Wollens“ beruht, trotz aller Bemühungen von Zwischenhändlern, politischen Parlamentären, die Wogen zu glätten.
Hoffnung, dass die offizielle Kanonenboot-Politik der israelischen Regierung, das Verhalten gegenüber den Palästinensern, vielleicht doch wieder gezügelt werden kann, kritische Worte eines Sigmar Gabriel doch nicht zu einem Kotau vor offiziellen israelischen Vertretern führen wird, die gibt es: So berichtet das israelische Onlineportal Haaretz.com vo einer Facebook-Initiave von iranischen Facebook-Nutzern, die dort Israel ihre Freundschaft versichern. Darauf, so Haaretz.com, habe es postwendend eine gleiche Aktion von Israelis gegeben. Geht doch!
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