In Wetzlar bildete sich in den zurückliegenden Monaten ein spannender Versuch ab, den Regional- und Lokaljournalismus mit künstlerischen Mitteln und moderner Bildschirmtechnik wieder mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Das Mittelhessenblog* ist an dieser Entwicklung inzwischen begleitend beteiligt, die nach einem Pilot im vergangenen Sommer mit dem Namen „Wetzlar – Meine kleine Stadt“ im Juni 2014 offiziell an den Start gehen wird. Herausgeber ist der Wetzlarer Grafiker und Verleger Peter Grosshaus.
„Es kriselt im Journalismus“ – „Nein es kriselt nicht, er verändert sich nur“. Die Debatte über die Zukunft und Qualität des Journalismus füllt mit zig Beiträgen, die über Kongresse in Diskussionsforen und unterschiedlichsten Medienformaten entschieden sind, inzwischen genügend papierene und digitale Seiten. Zuletzt hatten sich Christian Jakubetz und Anita Grasse darüber Gedanken gemacht. Christian Jakubetz stellt skeptisch fest: Und was, wenn sich irgendwann demnächst herausstellt, dass eine junge Generation, die in einer global-digitalen Welt aufgewachsen ist, mit dem Heimatbegriff unserer Tage gar nicht mehr viel anfangen kann? Der Sicherheit , dass man lokalen und hyperlokalen Journalismus immer brauchen wird, sollte man sich jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt hingeben. So skeptisch Jakubetz in die Zukunft blickt, so neugierig stellt Anita Grasse in der Blogparade Curcuma media fest, dass sie sich mit den Mitteln, die die moderne Technik biete, für die Zukunft sich eine bunte Zeitung wünsche. Eine Zeitung, die auf dem Tablet daherkommt und aus zusammengesetzten, selber ausgewählten Abohäppchen besteht. Im gleichen Blog plädiert Livia Schilling für mehr Entschleunigung und Gelassenheit bei der Präsentation von Nachrichten in der Zukunft. Aber auch auf dem Tablet.
In Wetzlar nun sieht es danach aus, als ob Antworten auf die Fragen gegeben werden, die die drei Kollegen gestellt haben. „Wir müssen die Menschen wieder zurückholen in die Städte, ihnen helfen, ihre Heimat wieder zu entdecken“, sagte Peter Grosshaus 2013 am Anfang des Projekts, das nun mit großen Bildschirmen in seiner Galerie/Werkstatt am Dom in Wetzlar sich Stück für Stück der realen Umsetzung nähert. Im Mittelpunkt stehen Bilder. Von Künstlern, Bildjournalisten, Photographen. Jedem, der eine Nachricht, eine Geschichte in erster Linie mit einem Bild zu erzählen hat. Diese Bilder werden mit Texten ergänzt, die salopp gesagt, das Format Twitter-XL nicht überschreiten. Nicht mehr als fünf,sechs Sätze. Diese sind dann kurz genug, dass sie schnell gelesen werden können. Lang genug, dass sie die essentiellen Gedanken enthalten. Die Themen des Magazins sind unter dem Dreiklang Kunst, Kultur, Geschichte aufgehängt
„Wo sollen denn dann die anderen Infos herkommen? Die, die in die Tiefe gehen können?“ Das Bilderradio übernimmt die Rolle eines Multiplikators. Wie: Eine Erklärung am Beispiel der Künstlerin Jae Eun – Jung, deren Werk vor kurzem während der Licher Kulturtage zu sehen war: Sicher gibt es Terminankündigungen. In den jeweiligen lokalen und regionalen Medien. Je nach Verbreitungsgrad und Lesegewohnheit, (klassisch gedruckt oder über elektronische mobile Medien) werden diese Informationen dann wahrgenommen. In der Regel verflüchtigen diese Informationen aber schnell. Mit dem Bilderradio, das über großformatige Bildschirme gesendet wird (idealerweise an Orten, die viel von Passanten oder Kunden wahrgenommen werden), wird dieses Ereignis angekündigt. Auf tiefergehende Informationen wird dann via Linknennung oder QR-Codes verwiesen – die dann zu den Medien führen, die über das Ereignis berichten.
Bilderradio bietet Ruhepunkte – Spritz drückt aufs Lesetempo
Vor kurzem hatte BILD eine neue Technik vorgestellt, die die Lesegeschwindigkeit erhöhen soll. Spritz heißt diese neue Technologie. Deren wesentlicher Gedanke: Weil soviel Information auf uns einstürmt und der Faktor Zeit nur einmal vorhanden ist, müsse die Lesegeschwindigkeit erhöht werden. Das namensgebende Unternehmen wirbt damit, dass die meisten Menschen heute schon 1000 Wörter in der Minute (wpm) lesen. In wenigen Jahren will das Unternehmen erreichen, dass 15 Prozent aller Texte weltweit so gelesen werden. Auf der eigenen Website stellt es entsprechende Testseiten zur Verfügung. Deren höchste angebotene Geschwindigkeit bis zu 660 wpm geht. In der Facebook-Gruppe des DJV-Bundesfachausschuss Online stellte Thomas Mrazek dazu die Frage: „Innovation oder Humbug; wäre das auch bei anderen Medien denkbar?“ Das Echo war überwiegend skeptisch.
Hier in der mittelhessischen Region hatte das Mittelhessenblog den Straßentest gemacht und einer Gruppe von 30 Menschen zwischen 16 und 85 die Testseite von Spritz vorgeführt. Die übereinstimmende Reaktion: Zu schnell und vor allem: „Es geht doch nicht nur ums schnelle Lesen, sondern auch darum den Text zu verstehen.“
Mit dem Bilderradio wird der Umgang mit Text- und Bildinformationen deswegen umgekehrt. Bewegtbilder und Sound sind in diesem Format ein Tabu. Das einzige, was sich bewegt, sind die Bilder, die in Abfolgen gezeigt werden. Großformatig und mit Texten im Twitter-XL-Format. bleiben lang genug stehen, dass die Informationen in annehmbarer Zeit gelesen werden können. Wer mehr wissen möchte, in die Tiefe steigen will, kann dann den mitgelieferten Hinweisen folgen. Der Name Bilderradio selber ist „uralt“. „Der stammt aus der Mediengeschichte. Das ist ein alter Kosename für defekte Fernseher in den 50ern oder eben auch stumm laufende Fernseher in irischen Kneipen“, sagt Grosshaus.
Bereits jetzt in der Planungsphase und Erprobungsphase waren und sind die Reaktionen unter potentiellen Partnern positiv. So befürwortet unter anderem der hessische Städte- und Gemeindebund das Projekt. Der offizielle Start für das neue Magazin ist für Juni 2014 geplant. Das neue Format „Bilderradio v2.0“ ist so angelegt, dass es bundesweit an geeigneten zentralen, öffentlich gut sichtbaren Standorten eingesetzt werden kann: Schaufenster, Foyers in Hotels, Stadtverwaltungen etc..
Aktuelle Eindrücke zum Bilderradio v2.0 gibt es hier mit Werken des Wettenberger Künstlers Erhard Waschke und hier mit dem Hinweis auf eine zur Zeit im Wetzlarer Stadthaus laufende Ausstellung des in Bern geborenen Fotografikers, Musik- und Theaterwissenschaftlers Stefan Kurt.
*) Anmerkung in eigener Sache: Designierter Chefredakteur des „Bilderradio v2.0/ Wetzlar – Meine kleine Stadt“ ist der freie Journalist und Gründer des Mittelhessenblog, Christoph v. Gallera, stellvertretender Chefredakteur ist Joachim Bernecke – in der mittelhessischen Kulturszene bekannt als einer der Gründungsväter von Braunfels live. Bernecke, besser bekannt als Barney, kehrt mit diesem Engagement zu journalistischer Arbeit zurück, die er in den 70er Jahren begonnen hatte. Damals hatte er zusammen mit Peter Grosshaus unter anderem die Produzentengalerie mit Buchhandlung am Kornmarkt in Wetzlar betrieben und bei der Wetzlarer Stadtzeitung gearbeitet.
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