Ist von Nachhaltigkeit die Rede, wird damit gerne Mittelhessen in Verbindung gebracht. Der Begriff aus der Forstwirtschaft wurde hier mit entwickelt. Nun soll mit dem schwedischen Möbelriesen Ikea ein Unternehmen nach Mittelhessen nach Wetzlar kommen, das zwar mit Nachhaltigkeit wirbt, diese aber mit Rücksicht auf niedrige Preise nicht immer einhält. Dass die hessische Umweltministerin Priska Hinz einen Tag nach Bekanntgabe der Investitionspläne in Wetzlar in Dillenburg die Verbraucher zu überlegtem Einkaufsverhalten aufruft, wirkt da eher wie ein verzweifelter Warnruf.
Nun ist die Katze also aus dem Sack: Ende 2016 soll in der mittelhessischen Stadt Wetzlar eine weitere Ikea-Filiale an der Hermannsteiner Straße auf dem ehemaligen Buderuswerksgelände öffnen. Geopfert werden dafür die Silotürme des ehemaligen Zementwerks aus Buderus-Zeiten, das bis 2010 von HeidelbergCement genutzt wurde und seit 2010 leer steht. Die Ikea-Entscheidung sorgte für überwiegend positive Resonanz in der Tagespresse. Das Mittelhessenblog lenkt den Blick hinter die Kulisse des schwedischen Möbelkonzerns. Auf Nachfrage bestätigte Ikea Deutschland wieso die Entscheidung für Wetzlar und nicht für Gießen fiel. Die Nähe zum Bahnhof lieferte wohl den Ausschlag.
Gewiss, Wetzlars Oberbürgermeister Wolfram Dette freut sich. Das wird gleich mehrfach dokumentiert. Die FAZ berichtet darüber, in der Wetzlarer Neuen Zeitung werden die Pläne des schwedischen Möbelkonzerns ebenfalls en detail vorgestellt, verbunden mit den Hoffnungen, die Dette daran knüpft.
So weit so gut. Seitens der Stadt sind derlei Hoffnungen verständlich. Der Wetzlarer Dom oder die blickfangende alte Sandsteinbrücke über die Lahn in der Wetzlarer Altstadt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Innenstadt unter dem gleichen Phänomen leidet wie viele Innenstädte. Leerstände ehemals alteingesessener inhabergeführter Geschäfte, die zunehmende Vergammelung ohnehin schon stiefmütterlich betrachteter Straßenzüge. Darüber können punktuelle Impulsspritzen wie der Hessentag, die zu Sanierungen und optischer Aufhübschung führen, nicht hinwegtäuschen. Gießen setzt in diesem Punkt auf die Impulse der Landesgartenschau, Wetzlar verspricht sich nun vom schwedischen Möbeldiscounter belebende Impulse. Dies dauerhaft.
Kommt ein freundlicher Riese?
In seiner Werbung legt der Möbelriese aus dem hohen Norden Wert auf ein familienfreundliches und umweltbewusstes Auftreten. Nur kann bezweifelt werden, ob er so freundlich ist wie er tut. Ob er seine selbstdefinierten Ziele in Sachen Umwelt und sozialverträglicher Arbeit tatsächlich erfüllen wird? Die ab 2017 zu erwartende Kundschaft könnte in Wetzlar die Probe aufs Exempel machen. Bis dahin gibt es immer noch die Gelegenheit, nach Frankfurt, Siegen, Wallau oder Hanau zu fahren, um das zu prüfen. Dort sind die bisher nächsten Ikea-Standorte aus mittelhessischer Perspektive.
Ikea ist ein Name, der erst einmal zugkräftig ist. Gleichermaßen aber auch polarisierend. Sowohl was den Umgang mit Arbeitnehmern wie den mit der Umwelt betrifft. Rund 150 Arbeitsplätze soll die Neuansiedlung in der temporären Industriebrache bringen. Wendet der Konzern sein gängiges Personalkonzept an, dürften zwanzig Prozent dieser Arbeitsplätze aus Vollzeitkräften bestehen, der Rest aus Teilzeitmitarbeitern. Dass Ikea als Arbeitgeber nicht unumstritten ist, ist bekannt. Bekannt ist ebenfalls, dass Ikea es nicht unbedingt so genau mit Umweltschutzvorschriften nimmt. Für seine Möbel, die von Studenten, jungen Familien oder auch Existenzgründern gekauft werden, riskiert der Möbeldiscounter schon mal, dass die Möbel zu Bedingungen produziert werden, die hier vermutlich sofort ein Fall für die Arbeitsgerichte wären, Arbeitnehmervertreter zum Dauergast machen würden, gegebenfalls auch zur Verfolgung wegen Umweltkriminalität führen würden. Wenn es um Fragen wie Nachhaltigkeit geht, ein Begriff, der hier in Mittelhessen durch Forstexperten vor gut 200 Jahren geprägt wurde, lässt der Möbelkonzern mit dem familienfreundlichen Image schon mal gerne fünfe gerade sein.
Daraus macht Ikea auch kein Geheimnis. Im Umweltschutzbericht 2010 heißt es, dass für das Konzept der niedrigen Preise Holz auch aus Regionen gekauft werde, in denen Kahlschlag oder illegal Holz gefällt werde. Im November 2011 und Januar 2012 liefen zwei Reportagen in der ARD und im WDR über die Materialbeschaffung. Der Tenor beider Reportagen weist auf diesen Widerspruch hin. Hier die offizielle Werbebotschaft des Möbelkonzerns, der sich Nachhaltigkeit auf die Fahnen schreibt. Und auf der anderen Seite offensichtlich das Ignorieren dieses selbstgewählten Anspruchs. In der WDR-Sendung Markencheck gehörte Ikea 2012 zu den untersuchten Firmen. Um Ikeas Produktion nachzuvollziehen, heftete sich das Rechercheteam auf die Spuren der Möbel-Tisch-Kombination Jokkmock. Grund war dessen niedrige Preiskalkulation.
Heute, drei Jahre nach dieser Recherche, hat Ikea diese Kombination immer noch im Programm. Allerdings nicht mehr in Angebot für den deutschen Markt. Wer nach „Jokkmock“ sucht, landet auf dem schweizerischen und österreichischen Ikea-Portal. Dort wird die Kombination ebenfalls noch zu einem Preis angeboten, der nach Einschätzung von Branchenexperten unter üblichen mittelständischen Kalkulationen für haltbare Möbel liegt. Hauptkritikpunkt war im Zusammenhang mit Jokkmock, dass Ikea mit seiner Tochterfirma Swedwood Raubbau an den Wäldern Kareliens in Russland betreibe. Ungeachtet dessen, dass es sich dabei um FSC-zertifizierte Wälder handele. FSC steht für Forest Steward Ship Council und soll mit dem konkurrierenden Siegel PEFC für Holz stehen, das im Einklang mit den Erfordernissen der Natur eingeschlagen wird. Das Pikante: Ikea gehört seit der Anfangszeit 1993 zu den aktiven Mitgliedern des FSC. Der russischen Tochter in Karelien war nun aktuell das FSC-Siegel entzogen worden. Offiziell begründet Ikea das Ende des Holzeinschlags in Karelien mit wirtschaftlicher Notwendigkeit.
Der Raubbau am karelischen Urwald hatte zu einer Protestaktion der Organisation Rettet den Regenwald geführt. Im Grunde passend zur Bekanntgabe, dass Ikea an dem verkehrstechnisch günstig gelegenen Standort in Wetzlar investieren will, hat die Ikeatochter Swedwood am 12. Februar erklärt, nun die Urwaldabholzung in Karelien beenden zu wollen. Ob dies allerdings tatsächlich aus Einsicht geschah oder dem Druck der Proteste nachgebend, bleibt offen. Denn auch in einem anderen Bereich, der am Ende ohne Holz nicht auskommt, bleibt Ikea bisher die Antwort schuldig. Es geht um Papier. Das berichtet die Naturschutzorganisation Robin Wood über das Ergebnis einer stichprobenartigen Untersuchung von Papierwaren im November 2013. Danach enthalten die meisten Papierprodukte Zellstoff aus Südostasien. Darin sieht die Organisation einen Widerspruch zu den selbstgesteckten Zielen des FSC-Mitglieds Ikea. Denn in Südostasien würden ohne Rücksicht auf die dort lebenden Menschen Tropenwaldbestände unter anderem für die geschäftlichen Ziele von Ikea abgeholzt. Robin Wood hatte Produkte der Reihe Särskild untersucht. Davon führt Ikea in seiner Onlinesuche gegenwärtig 23 Artikel auf. Auf der unternehmenseigenen Website heißt es zum Thema Nachhaltigkeit:
„Wir wollen uns positiv auf Menschen und Gesellschaft auswirken. Viele Jahre lang haben wir uns dabei auf ein sparsames Haushalten mit Ressourcen konzentriert und darauf, einen besseren Alltag für Menschen zu schaffen. Wir haben gute Fortschritte gemacht, seit wir vor einem Jahr unsere Nachhaltigkeitsstrategie, People & Planet Positive, eingeführt haben.“
Im Gegensatz zu dieser Nachricht steht die Feststellung von Robin Wood, dass das Unternehmen sich bislang dazu ausgeschwiegen hat oder nicht erklären konnte, wieso es trotz behaupteter Dokumentation und Überwachung der Produktwege zur Verwendung von Tropenhölzern für die Papierherstellung hatte kommen können. Der Vollständigkeit wegen muss gesagt werden, dass Robin Wood zu den Gründungsmitgliedern der deutschen FSC-Sektion gehört.
Etwas anderes entbehrt im Zusammenhang mit diesen Ereignissen und der geplanten Ansiedlung in Mittelhessen nicht einer gewissen Ironie. Einen Tag später forderte die hessische Umweltministerin Priska Hinz (Grüne), die aus dem Lahn-Dill-Kreis stammt, in einer Veranstaltung in der Wilhelm-von-Oranien-Schule in Dillenburg, unter anderem dieses:
Zum nachhaltigen Konsum gehört ferner die Überlegung, wo und von wem ein Produkt hergestellt wurde. Die Aspekte gerechter Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen auf die Umwelt dürften nicht länger unbeachtet bleiben.
Bliebe noch die Hoffnung auf die Innenstadtbelebung Wetzlars. Nur hier schreibt Tomke Frauke Weers-Hermanns in ihrem 2007 erschienen Buch „Planerische Steuerung des Einzelhandels aus kommunaler und regionaler Sicht“ über den Ikea-Effekt, dass Gemeinden und auch die Rechtsprechung versuchen, ein Ausbluten der Innenstädte zu verhindern, was durch Ansiedlungen wie Ikea befürchtet wird. Warum sich Ikea übrigens für Wetzlar und nicht für Gießen entschieden hatte, wird von Ikea auf Nachfrage eindeutig mit der direkten Anbindung an den Bahnhof und die sonst ebenfalls gute Verkehrslage beantwortet. Ob die Hoffnung des Wetzlarer Oberbürgermeisters auf einen großen Wurf erfüllen wird, wird sich zeigen. In direkter Fußgängerentfernung von Ikea sind nur das Forum, die Rittalarena und die Wetzlarer Niederlassung von Bauhaus. Nicht unbedingt Innenstadtlage.
Dass mit der geplanten Ikea-Ansiedlung in Wetzlar auch die Zeit der Silotürme von HeidelbergCement gezählt sind, ist dabei nur ein Randaspekt, der zumindest von dem einen oder anderen Touristiker aus der Region bedauerlich gewertet werden dürfte. So bezeichnet das Solmser Touristikunternehmen Rotana die Silotürme als weithin markantes Erkennungszeichen. In einer Tourenbeschreibung heißt es auf der Website:
Voraus sehen wir Wetzlar, zu erkennen an den Silotürmen des ehemaligen Zementwerkes
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