Am 8. März feiert ein Konstrukt seinen 60. Geburtstag, das von den einen als unverzichtbar betrachtet wird. Von den anderen als lästige Fessel. Um sich dafür einzusetzen, gibt es eine offizielle überparteiliche Vereinigung europäischer Föderalisten, genauso aber ein ganz taufrische Bürgerbewegung von „ganz unten“ , die in Frankfurt ihren Anfang nahm und nun immer mehr die Menschen im Wahljahr 2017 für die europäische Idee mobilisiert. Die Rede ist natürlich von der EU. Ein Echo von den Offiziellen der europäischen Föderalisten aus Mittelhessen zu bekommen, verlief bislang im Sande. Vielleicht wachen sie ja auf, wenn sie von der Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ erfahren.…
Kontinental – Ideal ‑Digital
Jubiläen sind in der Regel der Anlass für Fest- oder Gedenkreden und Fest- oder Gedenkveranstaltungen. Nun steht wieder ein solcher Tag ins Haus. Die Gründung der Keimzelle des heutigen politischen Europa vor 60 Jahren. Das andere Europa dagegen ist wesentlich älter. Der Kontinent Europa. Geschichtlich bringt Herodot den Begriff ins Spiel. Als Abgrenzung zu Asien. Aber es gibt Europa mittlerweile auch im Internet als eigenständigen Begriff. Damit ist nicht nur die Top-Level-Domain „.eu“ gemeint, sondern der Blick von außerhalb Europas auf Europa im Internet. Mit der Frage hat sich bereits 2007 der damals angehende Geograph Dominik Kremer in seiner Diplomarbeit an der Uni Bamberg befasst. Er kommt auf spannenden Ergebnisse: So stellte er fest, dass sich zum Beispiel Australien als Mittler für den europäischen Raum sieht, wenn es um den asiatischen Raum geht. Und der wiederum beginne geographisch schon bei Zypern, das genauso wie Israel rein geographisch schon zu Asien gezählt werden müsse. Von seiner Orientierung her aber eindeutig zu Europa gezählt werden müsse.
Im Wahljahr 2017 finden in den drei Gründungsstaaten des politischen Europas, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, Parlamentswahlen statt. In allen drei Staaten haben sich politische Parteien etabliert, die sich in einer Grundhaltung einig sind: Kritik an der politischen Union. Im Extremfall, wie jetzt in Großbritannien geschehen, auch die Aufkündigung der politischen Union. Und in UK wollen Briten aber ebenso eine EU-Staatsbürgerschaft beantragen. Ob EU-Bürger künfig Visa für einen Besuch in UK beantragen müssen. Noch ist es nicht der Fall. Denn noch gehört UK zur EU. Dass sich die Brexit-Befürworter beim Referendum durchsetzten, hatte unter anderem mit Ängsten zu tun. Unter anderem der, UK käme in der EU dauerhaft zu kurz. Die Versuche, die Politik der EU nach eigenen britischen Vorstellungen zu gestalten , sind bekannt.
Brexit und Demokratiemonster?
Europa ist keine Partei und (noch) kein Staat. Das bisherige Beschickungsprinzip der europäischen zentralen politischen Organe (Parlament und Kommission) ist klar: Die Kommissionsmitglieder werden von den Regierungen der jeweiligen Nationen für ihr jeweiliges Amt ernannt. Deutschland wird in der Kommission gegenwärtig von Günther Öttinger vertreten, Frankreich von Pierre Moscovici. Bis zum brexitbedingten Ausscheiden der Briten besteht die Europäische Kommission derzeit aus 28 Mitgliedern. Der britische Kommissar Julian King kam gerade erst im Sommer 2016 als Ersatz für Jonathan Hill, der wegen des Brexit seinen Rücktritt erklärt hatte. King ist indes nicht für eine eher zweitrangige EU-Kommission verantwortlich,sondern direkt für eine Schlüsselpositio, für die Sicherheitskommission. Zum Verständnis: Ein EU-Kommissar wäre auf nationaler Ebene mit einem Minister vergleichbar.
In der Art und Weise, wie die Kommissionsmitglieder ins Amt kommen, wird gerne als Demokratiedefizit der EU beschrieben. Nur, blickt man in die Praxis der nationalen Regierungen, etwa Deutschland, werden die Minister ja auch ernannt. Vom Bundespräsidenten, der dem jeweiligen Vorschlag des Bundeskanzlers folgt. Der entscheidende Unterschied indes: Die EU-Kommissare werden von den jeweiligen Mitgliedsstaaten entsandt. Das EU-Parlament, dem die Kommissionsmitglieder in der Regel als gewählte Parlamentarier angehören, hat indes immer noch weniger Mitspracherechte als sie ein nationales Parlament hätte. Übertragen auf die Bundesregierung wäre es in etwa damit vergleichbar, als wenn die jeweiligen Länderparlamente je einen Minister nach Berlin entsenden würden, der dann mit dem Bundeskanzler im Kabinett zusammenarbeiten müsste und der Bundestag nur eingeschränkte Mitspracherechte hätte.
Chance für den Kontinent…und wieso Russland dazugehört
Wer über eine wieder stärker werdende europäische Idee nachdenkt und sich über das Erstarken der derzeitigen EU-Skeptiker und Rechtsparteien wundert, braucht letztlich nicht lange suchen: Die Antwort liegt in den Ursprüngen der politischen Idee, die wir gerade feiern und einer über Jahrzehnte eher sehr stiefmütterlich praktizierten Öffentlichkeitsarbeit über Sinn und Zweck der EU. War von der EU die Rede, überwogen in der Regel Spott und Ärger über Regulierungswut bis in kleinste Details. Seien es Vorschriften über die sprichwörtliche Gurke, das Glühbirnenverbot oder auch Beschwerden wegen unterschiedlicher Öko-Standards. Die Tatsache, dass der gleiche Apparat durch Verhandlungen zwischen den europäischen Staaten mit der Zeit für nahezu grenzenlose Bewegungsfreiheit innerhalb dieses Wirtschaftsraums führte, wurde höchstens während jährlicher Ferienfahrten registriert.
Die aktuelle Bewegung Pulse of Europe gäbe indes die Chance, über eine Komplettrenovierung dieses Europas nachzudenken und gleichzeitig über die Einbeziehung aller europäischer Staaten, auch die der heutigen EFTA-Staaten Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz sowie Russlands. Zusammengenommen ein Raum mit aktuell rund 740 Millionen Menschen. In der EU, ohne Russland und die EFTA-Staaten lebten 2016 rund 510 Millionen Menschen. selber Sprich, die politische Institution Europa in Übereinstimmung mit dem tatsächlich kulturell gewachsenen Europa mit seinen vier bestimmenden Kulturarealen Nordwesteuropa, Mittel‑, Ost– sowie Südosteuropa und dem mediterranen Raum. Diese Einteilung in Kulturareale hat der Schweizer Sozialanthropologe Christian Giordano vorgeschlagen. Der Wissenschaftler, der an der Uni Freiburg in der Schweiz lehrt, hatte dafür den Begriff der „historischen Regionen Europas“ eingeführt. Der Wikipedia-User Ökologix hatte darauf aufbauend eine entsprechende Grafik erstellt. Dabei stützt er sich im wesentlichen auf die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein. Der US-Soziologe vertritt die Auffassung, dass soziale Phänomene immer auch in ihrem historischen Zusammenhang betrachtet werden müssen. („one cannot analyze social phenomena unless one bounds them in space and time“.) Ein entscheidendes Argument, wieso man Russland und den osteuropäischen Raum beim Nachdenken über ein gemeinsames Auftreten Europas nicht außer Acht lassen darf, liefert unter anderem der Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier von der Georg-August-Universität Göttingen. Er sagt, dass „europäisch“ keinen Wertemaßstab darstellen kann, sondern eine Bezeichnung für eine Beziehung ist. Im Sinne von europäisch und außereuropäisch. Russland nimmt wegen seiner Schnittstellen in den asiatischen Raum dabei eine wichtige Rolle ein.
Verschiedene Rechtssysteme und eine Gesellschaft?
Giordano bringt in die Debatte über Integrationsprozesse eine weitere These ein, von der selber sagt, sie sei provozierend: Er tritt dafür ein, dass man sich in Europa an die Existenz unterschiedlicher Rechtsanwendungen für die verschiedenen Glaubensrichtungen gewöhne. 2008 berichtete die NZZ darüber. Auch darüber, dass Giordano Unterstützung in seinen Ideen von dem ebenfalls in der Schweiz iranischen Soziologen Farhad Afshar bekommt. Afshar ist in der Schweiz Präsident der Koordination Islamischer Organisationen. Dieser hatte darauf hingewiesen, dass im islamischen Raum schon seit Jahrhunderten Christen, Juden und Moslems unterschiedlichen Rechtssystemen unterlägen hätten und die staatliche Ordnung deswegen nicht zusammengebrochen sei. 2017 dagegen portraitiert die NZZ Afshar als einen Mann, der mit seinen Aussagen schwer zu fassen sei – in einem Spannungsfeld zwischen der Unterstützung moderater und fundamentalistischer Positionen .
Anders als die bisherige Regierungsbildung durch die Entsendung von Ministern aus den jeweiligen Mitgliedsstaaten in die EU- Kommission, wäre es vielleicht sinnvoll, andere Wege zu gehen:
Anstatt die Kommissionsmitglieder wie bisher durch die Nationalstaaten zu entsenden, schlägt der Kommissionspräsident dem EU-Parlamentspräsidenten seine Vorschläge vor, dieser ernennt dann die Minister bzw entlässt sie. Bislang sieht die Geschäftsordnung des EU-Parlaments derlei nicht vor. Zwar wird der EU-Kommissionspräsident selber in einem aufwendigen Verfahren immer nach der Europawahl durch Vorschlag vom EU-Rat durch das Parlament gewählt. Zwar heißt es in der deutschen Wikipedia, der Europäische Rat sei im Gegensatz zum Parlament zwar auch an einem Kommissionspräsidenten mit Regierungserfahrung interessiert. Gleichzeitig solle er aber auch „schwach“ sein. Deswegen, weil er möglicherweise sonst dem Gestaltungsanspruch der nationalen Regierungschefs im EU-Rat im Weg stehe.
Direktwahl des Kommissionspräsidenten
Genau hier setzt, aus Sicht einer für alle europäischen Länder handelnden Regierung, ein Hauptkritikpunkt an: Der Einfluss des Rates müsste so verändert werden, dass er die Wahl des Kommissionspräsidenten beeinflussen kann.
Vor der EU-Wahl hatte sich eine Kampagne dafür stark gemacht, dass die EU-Bürger selber den Kommissionspräsidenten wählen. Verantwortlich war dafür die überparteiliche Vereinigung der europäischen Föderalisten, in Deutschland repräsentiert über die Europaunion einschließlich deren Landes- und Kommunalverbände (exemplarisch hier die hessischen und mittelhessischen Verbände Gießen, Lahn-Dill, Limburg, Marburg-Biedenkopf, Vogelsberg und Wetterau) . Die offizielle Website der Kampagne ist heute, acht Jahre später, allerdings nur noch eine schlecht gepflegte Pro-Forma-Seite. Vielleicht sollten die Föderalisten sich von Pulse of Europe inspirieren lassen oder noch besser, diesen Gedanken der Basis noch lauter und stärker werden lassen – auf dem Weg zur Stärkung eines echten Europas der Bürger…Denn die Stimmung scheint dafür da zu sein. Allen Le Pens, Wilders oder Petrys, Höckes und Gaulands zum Trotz.…
Und Erasmus hatte doch recht.….
Die Werkzeuge, um den Kontinent Europa in seiner Vielfalt dennoch in der Außen‑, Wirtschafts‑, und Sicherheitspolitik mit einer Stimme sprechen zu lassen, sie sind vorhanden. Sie umzusetzen, braucht es aber mindestens zwei Dinge: Die Stimme derjenigen muss wachsen, die in der kulturellen Vielfalt Europas keinen Widerspruch zu einem starken gemeinsamen politischen Auftreten sehen. Die Europäer von Ceuta bis Hammerfest und von den Äußeren Hebriden bis Moskau müssen sich im Klaren sein, dass sie in der Gemeinschaft stärker sind, als in einem Geflecht unübersichtlicher bilateraler Abkommen, die sich im schlimmsten Fall gegenseitig blockieren und zu Verwicklungen ungeahnter Sprengkraft führen können.
Aus der jüngeren europäischen Geschichte gibt es dafür ein warnendes Beispiel: Die Bündnispolitik, die am Ende in den Ersten Weltkrieg geführt und den Weg für die weiteren Katastrophen bereitet hatte, die über den europäischen Kontinent hereingebrochen waren.
Erasmus von Rotterdam hatte damals nicht so unrecht, als er die Einigkeit der Europäer als einzig vernünftigen Weg für ein friedliches Miteinander skizziert hatte, das Zurücktreten einer parzellierenden Kleinstaaterei zugunsten eines Völkerbundes.
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