Mittelhessen im 21. Jahrhundert: Die Bioenergiegenossenschaft in Fronhausen (Kreis Marburg-Biedenkopf), Sonnenland in Buseck (Landkreis Gießen) , das Bioenergiedorf Oberrosphe (ebenfalls Kreis Marburg-Biedenkopf), ein „aquariohm“ in der Vogelsbergkreis-Gemeinde Mücke, mit der Friedrich-Wilhelm-Raiffeisenschule ein Schulprojekt auf Genossenschaftsbasis in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis ) und schließlich die Genossenschaft pro regionale energie eG aus Diez im Kreis Limburg-Weilburg. Alle fünf stehen für ein Wirtschaftsmodell, dessen Namensgeber eben jener Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist, der 1818 im Westerwalddorf Hamm geboren wurde – heute im Bundesland Rheinland-Pfalz. Raiffeisen gilt zusammen mit dem Preußen Hermann Schulze-Delitzsch als Gründer der Genossenschaften in Deutschland und gab der Raiffeisenorganisation ihren Namen.
In Gießen wurden nun während des Zweiten Kongresses für Kommunale Kooperation 13 verschiedenen genossenschaftliche Projekte quer durch die Republik mit dem so genannten Geno-Futura-Award 2011 ausgezeichnet. [Die Deutsch-Lateinisch-Englische Wortkreation steht für die Worte „Genossenschaft“, „Zukunft“ und „Auszeichnung“, Anmerkung der Redaktion]. Veranstalter des Kongresses war die Andramedos-Genossenschaft, der der Gießener FH-Professor Wolfgang George vorsteht. George gilt über die mittelhessische Region hinaus als einer der aktuellen Verfechter genossenschaftlicher Lösungen für die Zukunft, wenn es um Fragen wie Energie‑, Nah- oder medizinsche Versorgung geht.
Gleichzeitig widmeten sich einschließlich der angereisten Vertreter der ausgezeichneten Projekte Köpfe aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung unter dem Titel „Regionales Zukunftsmanagement“ der Suche nach Lösungen auf die drängenden Fragen, die bereits seit mehreren Jahren offensichtlich werden: Marode Bürgerhäuser, geschlossene Schwimmbäder, von Schließungen bedrohte Schulen und Kindergärten. Ein besonders in den ländlichen Gebieten immer mehr zunehmender Leerstand in den Ortskernen, Schließung von kleinen Lebensmittelmärkten. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Auf der Gegenseite stehen je nach politischer Einfärbung unterschiedliche Lösungsvorschläge, die alle miteinander aber einen Hemmschuh haben: Öffentliche Kassen, deren Leere manche Kommune zu kreativer Phantasie bringt, diese zu füllen und dabei billigend den Unmut betroffener Bürger in Kauf zu nehmen.
Dass es anders gehen kann, hat nun in Gießen ein Bürgermeister aus dem osthessischen Alheim vorgemacht: Georg Lüdtke berichtet über inzwischen 2,5 Millioen Euro Einnahmen aus Gewerbesteuereinnahmen, die in die Kasse der aus zehn Ortsteilen bestehenden Gemeinde fließen und ihm damit helfen, wichtige öffentliche Aufgaben besser erfüllen zu können. Die mehrfach ausgezeichnete Gemeinde im Fuldatal wurde kürzlich erst von der Deutschen Unesco Kommission dafür ausgezeichnet, dass sie ihren Einwohnern, egal ob alt oder jung, beispielhaft das Grundlagen nachhaltigen Denkens und Handelns vermittelt und diese auch umgesetzt habe. Dafür prämiert die Unesco weltweit Kommunen im Rahmen der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ . Wie Lüdtke weiter berichtet, sei für diese Entwickllung unter anderem auch das gezielte Voranbringen der Umstellung der Energieproduktion auf erneuerbaren Energien. Allein das habe rund 250 neue Arbeitsplätze entstehen lassen, die heimische Wirtschaft vorangebracht, wovon wieder die Bürgerschaft profitiert habe.
Zu den Preisträgern gehört auch Wettenberg im Landkreis Gießen. Dort kümmert sich seit mittlerweile elf Jahren ein Energiebeirat darum, dass vor allem durch bewusstes Sparen weniger Energie verbraucht wird. Zudem ist Wettenberg mit seinem Ortsteil Wißmar Sitz des Holz- und Technikmuseums, einem Ort, dessen Besucher regelmäßig Zusammenhänge im Umweltschutz vorgeführt bekommen. Die Verleihung des Geno-Futura-Award, dessen erster Namensteil ja nun ausdrücklich auf die Genossenschaft hinweist, wurde damit begründet, dass bei den angegangenen Projekten die Bevölkerung immer wieder mit ins Boot geholt und an den Projekten beteiligt worden sei.
Was macht nun den Reiz der Genossenschaften, der Idee anscheinend nun wieder neue Nahrung erhält? Ein Blick in die Geschichte:
Gerade die Not der Landbevölkerung während der Hungernot von 1846 war es, die den evangelischen preußischen Kommunalbeamten Raiffeisen im 19. Jahrhundert noch vor der Entstehung des Deutschen Reiches von 1871 bewog, eine Lösung zu findendamit auch die Ärmsten und Bedürftigsten der Gesellschaft zumindest noch ihren Magen füllen und nicht Hunger leiden mussten. Während Raiffeisen so eher das soziale Element in die Genossenschaften einzog, zäumte der andere Mitbegründer des Genossenschaftswesens in Deutschland, der Preuße Herman Schulze-Delitzsch das Genossenschaftspferd anders auf: Schulze-Delitzsch trat von Anfang an für den absoluten Ausschluss des Staates, mithin der öffentlichen Hand aus der Genossenschaft ein und stand damit Widerspruch zu Raiffeisen. Schulze-Delitzsch lehnte Förderungen durch den Staat ab (mehr dazu in Wikipedia) . In der Folge sollten Molkereigenossenschaften, Einkaufsgenossenschaften, Konsumgenossenschaften , nicht zuletzt auch die Vorläufer der heutigen Volks- und Raiffeisenbanken entstehen. Gerade die letztgenannten entwickelten sich aber aus den so genannten Vorschuss- und Kreditvereinen. In der Regel waren es
Dass im übrigen Genossenschaft und Verein sich nicht unbedingt ausschließen müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, zeigen die Rechtsformen, die sich die Genossenschaftsverbände geben. Ob es nun im hessischen Neu-Isenburg, dem Sitz des Prüfungsverbands für die Kredit‑, Wohnungs- und Warengenossenschaften in Hessen, Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland ist oder im sächsischen Chemnitz die des Mitteldeutschen Genossenschaftsverbandes ist: Die gewählte Rechtsform ist der Verein. Der Unterschied: Der Verein ist in der Regel auf nicht wirtschaftliche Tätigkeiten ausgerichtet, während die Genossenschaft genau zu diesem Zweck gegründet wird, weil alle das gleiche unternehmerische Ziel verfolgen. So zumindest beschreiben die einschlägigen juristischen Definitionen den zentralen Unterschied.
Mit der Gesellschaftsform Genossenschaft ist allerdings auch einer der größten Wirtschaftsskandale der alten Bundesrepublik Deutschland verbunden: In den 70-er und 80-er Jahren machte die co op AG aus Frankfurt negative Schlagzeilen. Die co op war als Aktiengesellschaft aus dem Zusammenschluss der meisten westdeutschen Konsumgenossenschaften entstanden und geriet durch undurchsichtige Finanzgeschäfte ihrer Vorstände in Schwierigkeiten, die schließlich zur Zerschlagung führten. Eigentümer der co op Ag waren größtenteils Gewerkschaften, die ihre Beteiligung zu verschleiern versuchten.
Dass es letztlich um immer größer werdendes Wachstum geht, mithin trotz des ursprünglich sozialen Gedanken, den Raiffeisen prägte, dafür stehen die Geschichten der größten Volksbanken Deutschlands, eine davon ist in Mittelhessen in Gießen beheimatet und trägt denn auch den Namen Volksbank Mittelhessen. Hervorgegangen ist sie aus der Volksbank Gießen und vergrößerte mit der Zeit ihren Einzugsbereich. Ihr Wachstum wird in der Öffentlichkeit zweigeteilt wahrgenommen: Während in Wirtschaftskreisen die Volksbank Mittelhessen ob ihrer Größe als Finanzierungspartner gerne gesehen wird, kommt sich mancher Privatkunde inzwischen nur noch als Nummer vor und befürchtet, einfach nicht mehr wahrgenommen zu werden. Genau dieser Aspekt wurde in den vergangenen Jahren aus dem Umfeld anderer noch eigenständiger genossenschaftlich organisierter Banken aus dem mittelhessischen Raum ins Feld geführt, wieso man seine Eigenständigkeit wahren und das Gesicht für die Region behalten wolle.
Rund um die genossenschaftlichen Modelle, mit denen nun, um im mittelhessischen Raum zu bleiben, Konstrukte gefunden wurden oder werden sollen, um grundlegende Fragen der Daseinsvorsorge zu lösen, die der Staat oder die öffentliche Hand insgesamt mangels knapper Kassen nicht mehr zu lösen in der Lage ist, sollten sich die Planer angesichts der Beispiele gescheiterter Genossenschafsmodelle dies vor Augen halten: Solange die Bürger tatsächlich als Genossen nicht nur an den Investitionskosten eines gemeinschaftlichen Unternehmens beteiligt werden sondern tatsächlich für jeden beteiligten privaten Haushalt sich ein spürbarer geldwerter Vorteil bemerkbar macht, solange mag das Genossenschaftsmodell tatsächlich eine ehrliche Lösung sein. Wenn es nur dazu dient, ohnehin bestehende Netzwerke aus bereits gut etablierten Akteuren der Wirtschaft noch stärker zu verzahnen und den einfachen Genossen nur die Brosamen zukommen zu lassen, werden auf lange Sicht auch anfangs gut gemeinte Genossenschaftsmodelle zum Scheitern verurteilt sein. Beispiele der letzten Jahre sind die Molkereigenossenschaften, die durch ihre immer stärker werdende Konzentration und die Milchpreispolitik ihre Basis (die Milcherzeuger) so gegen sich aufgebracht haben, dass sich unter den Milchbauern ein eigener Verband gegründet hat, um. Legt man das Selbstverständnis des Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV) zugrunde, hätte dies nicht geschehen dürfen. Während einer Anhörung vor dem Bundeskartellamt 2010 zur hatte der DRV unter anderem so Stellung genommen: “ Der Milcherzeuger unterhält mit seiner Molkereigenossenschaft eine Förderbeziehung; er hat Mitbestimmungsrechte und Demokratieverantwortung in den Generalversammlungen. Somit handelt es sich bei eingetragenen Genossenschaften um klassische Erzeugerzusammenschlüsse“. Der volle Wortlaut der als Pressemitteilung veröffentlichten Stellungnahme kann auf dem Agrarportal proplanta in einer Meldung vom 14. Mai 2010 nachgelesen werden. Schilderungen von heimischen Milchbauern quer durch Mittelhessen gegenüber der Mittelhessenblog-Redaktion im Jahr 2010 lassen dieses Selbstverständnis allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Es bleibt zu hoffen, dass die Pioniere des neuen genossenschaftlichen Gedankens, der sich nun in Gießen zum zweiten Mal manifestiert hat, anders handeln.
Weiterführende Links
Die Entstehung des europäischen Genossenschaftsgedankens (Zeit-Fragen)
Hintergründe co op AG (wikipedia)
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