Politisch, jung, bunt: Das war sie, die Buchmesse 2015 Frankfurt. Zweifelsohne. Sie war aber auch eines: Eine Messe der Kontraste: Hier fortschreitende Digitaltechnik. Dort ebenso fortschreitend oder wieder neu aufblühend: Die Freude am konventionellem gut gemachten Buch, spannend erzählten Abenteuergeschichten aus dem Alltag und Bücher, wertvoll wie Diamanten. Hier große Verlage mit großen Namen und quer durch die Medien vertretenen Autorennamen, dort viele kleine unabhängige Verlage, die versuchen, neue Themen zu setzen oder alte Themen neu aufzubereiten. Das Mittelhessenblog hat sich bei seinem Rundgang durch die Hallen 3 und 4 diesen Verlagen gewidmet. Einer dieser Verlage, die sich gegen den Mainstream stellen, stammt aus Mittelhessen.
Es ist das A‑Wort, das Deutschland und Frankreich anscheinend spaltet. Hier benutzt wie ein Schimpfwort, um den politischen Diskussionsgegner zu verunglimpfen, dort ein ganz normales Wort. Es geht um „Anarchie“. „Wir haben hier ein ganz anderes Verständnis dieses Wortes, genauso wenn es um den Begriff Kommunismus geht“, sagt Dr. Andreas W. Hohmann. Er ist Inhaber des Verlags „Verlag Edition AV“ aus Lich.
Auf der Buchmesse teilt er sich eine Standfläche mit anderen ähnlich ausgerichteten kleinen mittelständischen Verlagen, die sich Themen aus dem sozial- und gesellschaftspolitischen Umfeld auf die Fahnen geschrieben haben. Eines der Kernthemen im Verlag ist immer wieder die Anarchie. Allerdings: „Anarchie wird in Deutschland direkt als Schimpfwort verwendet. Dabei geht es nicht um chaotische Zustände, wenn wir von Anarchie sprechen“, stellt Jürgen Mümken fest. Er ist einer der Hauptautoren des Verlags.
„Es geht um die Abwesenheit von Fremdherrschaft, die Möglichkeit, selbst handeln zu können. Soweit wie die Freiheit des anderen dabei nicht verletzt wird“, sagt Mümken. In Frankreich, so Verleger Hohmann sei der Umgang mit der Anarchie wesentlich entkrampfter. Er bringt das Beispiel von Michel Ragon und seinem Roman „La mémoire de vaincus“ aus dem Jahr 1990. Ragons Verlag habe versucht, das Buch auf dem deutschen Markt zu platzieren. Vergeblich. Gescheitert sei es am Wort „Anarchie“. Bis Hohmann an den französischen Verlag herantrat und die Exklusivrechte für den deutschsprachigen Markt erwarb. 2006 erschien das Buch als „Das Gedächtnis der Besiegten“ in dem Licher Verlag.
Nur: Egal ob Frankreich oder Deutschland: Das Thema Anarchie sei inzwischen als politisches Modell nicht mehr in dem Maße verbreitet wie noch vor etwa 30 Jahren. Es gäbe hinreichend „Ich finde es dennoch immer wieder bemerkenswert, wenn für die Beschreibung chaotischer Zustände in deutschen Medien in Schlagzeilen dann davon zu lesen ist, dass Anarchie herrscht. Ein Widerspruch in sich“, sagt Mümken.
Widerspruch in sich: Mit der Beschreibung hat ein anderer Großer des Literaturbetriebs der alten Bundesrepublik und der jetzigen zu kämpfen. Er stört sich aber nicht wirklich daran: Hans Magnus Enzensberger. In den 60er Jahren war der Journalist und Autor einer der wesentlichen Unterstützer der Apo- und der 68er-Generation. Mitte der 80er Jahre entdeckt er seine Liebe für hochwertige Buchkunst und gründet zusammen mit Franz Reno die Edition „Die andere Bibliothek“, die er bis 2004 herausgibt, mit dem Anspruch, jeden Monat ein hochwertig gemachtes Buch für Bücherliebhaber, für Bibliophile, auf den Markt zu bringen. Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Zu den Spezialitäten des Verlags gehören unter anderem Bücher im Großformat. Jedes dieser Bücher in der Regel ein Hingucker. Den des Jahres 2014 hatten der Münchner Publizist und Journalist Rainer Schmitz und der Berliner Grafiker Sebastian Bissinger zu verantworten: Tausend und ein Tag, Morgenländische Erzählungen. Auf exakt 1045 Seiten findet eine rasante unverstellte Reise durch den Orient statt, angereichert mit bildgewaltiger Phantasie auf 72 ausklappbaren Bildern mit einer Gesamtlänge von 30 Metern – ein Werk, das sich kaum auf das Display eines Kindle pressen lässt oder an einer Bildwand durchrauschen kann. Es verlangt Zeit, sich ihm zu widmen.
2015 stellt die Andere Bibliothek einen neuen Folianten vor, der die Leser mitten nach Hessen führt: Das Tagebuch und die Zeichnungen des dritten Grimm-Bruders Ludwig Emil. Entdeckt und für die Öffentlichkeit aufbereitet haben ihn zwei Hessen: Hans Sarkowicz, Kultur- und Wissenschaftsleiter des Hessischen Rundfunks, und der Germanist und Literaturwissenschaftler Heiner Boehnke. Beide sind schon lange für literarische Streifzüge und Wiederentdeckungen aus Hessen und anderen Regionen in der Mitte Deutschlands verantwortlich. Nun haben sie das Originalmaterial, das die Stadt Kassel besitzt, für die Andere Bibliothek aufbereitet und so es möglich gemacht, dass Ludwig Emil Grimm heute mit seinen Worten und seinen Zeichnungen die Stars der deutschen Romantik festgehalten hat.……
Mit dem ebenfalls in Berlin ansässigen Wagenbach-Verlag und dem 2009 in Hamburg gegründeten Ankerherz-Verlag gibt es zwei weitere Verlage, die sich an alte Themen in neuem Gewand wagen und nach und nach ihre Fans bekommen: In der Tradition klassischer unterhaltender Wissenschaftsreportage wie bei Paul Herrmann steht etwa das Buch, das der britische China-Experte Timothy Brook geschrieben und Wagenbach jetzt deutschsprachigen Lesern erschlossen hat: Wie China nach Europa kam, die unerhörte Karte des Mr.Selden. Im Kern geht es bei dieser Geschichte um eine Karte, die im 17. Jahrhundert nach Europa geriet und dann lange bis vor kurzem verschollen war.
Um Abenteuerreportagen schließlich geht es dem ehemaligen Polizeireporter Stefan Kruecken. Der 40-jährige erzählt in seinem jungen Verlag Ankerherz Geschichten von wagemutigen Kapitänen, Unternehmensgründern, Fischerfamilien, kurz, von Zeitgenossen, deren Leben etwas anders verläuft als das von klassischen „Couchpotatoes“. Im Programm ist unter anderem auch die Geschichte der sechs Fischer der Andrea Gail, die am 4. November 1991 in ein schweres Unwetter vor der Neufundlandbank (Grand Banks) geriet, kenterte und ihre Besatzung in den Tod riss. Das Ereignis wurde die Vorlage zum Buch und Film „Der Sturm“.
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