Wir erinnern uns: Auf dem Höhepunkt seiner Popularität wurde seine Doktorarbeit zum Stolperstein ins politische Nirwana: Ex-CSU-Star, Medien- und Bürgerliebling Karl Theodor Baron zu Guttenberg. Eigentlich sollte er vor den Kommunalwahlen am 27. März 2011 auch nach Mittelhessen kommen. Seine Termine hatte er dann kurzfristig abgesagt. Wegen des Vorwurfs, seine Doktorarbeit in weiten Teilen plagiiert zu haben. Die FDP-Politikerin Koch-Mehrin und die CDU-Frau Annette Schavan waren die nächsten auf der Liste der Plagiatsjäger. Schien der Vorwurf bisher Politiker aus dem konservativ-liberalen Lager zu treffen, ist nun offensichtlich ein „Roter“ an der Reihe. Ex-Außenminister und jetziger SPD-Fraktionschef im Bundestag: Frank-Walter Steinmeier. Der Dortmunder FH-Professor Uwe Kamenz hat laut Focus vom 29. September 2013 bei der Uni Gießen die Überprüfung von Steinmeiers vor 22 Jahren eingereichter Doktorarbeit angeregt. Die Betreuer waren damals der spätere Bundesverfassungsrichter Professor Brun-Otto Bryde und der inzwischen verstorbene Professor Helmut Ridder.
Der SPD-Politiker hatte von 1976 bis zum Erreichen des zweiten Staatsexamens in Gießen 1986 Rechtswissenschaften und Politikwissenschaft studiert. 1991 promovierte er in Gießen mit dem Thema „Bürger ohne Obdach : zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum ; Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ . Während seiner Zeit in Gießen war er außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen.
Die Jeanne d’Arc der deutschen Wissenschaft?
Als 2011 die Wellen wegen der Plagiatsvorwürfe gegen Karl-Theodor zu Guttenberg hochschlugen und schließlich aus dem Amt und im Nachgang aus der öffentlichen Wahrnehmung in der deutschen Politik und Öffentlichkeit spülten, war es vor allem der Dortmunder Fachhochschulprofessor Uwe Kamenz, der die Welle von Echtheitsuntersuchungen der Promotionen vor allem von Politikern vorangetrieben hatte. Zwar war Kamenz nicht an allen Enthüllungen beteiligt, etwa bei den Vorwürfen um die ehemalige Bundesbildungsministerin Schavan. Auffällig war aber, dass sich die Vorwürfe seit Guttenberg bisher immer gegen Politiker aus dem Lager CDU/CSU und FDP gerichtet hatten. Dass Kamenz sich sozusagen zu einer Jeanne d’Arc der deutschen Wissenschaft aufgeschwungen hatte, wird in einer Darstellung des Tagesspiegel deutlich. Dieser titelt am 24. April 2013 „Umstrittener Professor startet Kampagne gegen Plagiate von Politikern“ und verweist auf Kritik an möglichen wirtschaftlichen Interessen des Hochschullehrers. Dazu muss man wissen, dass Kamenz an der FH Dortmund Marketing unterrichtet und außerdem ein privates Institut betreibt, das sich Institut für Internet-Marketing nennt. Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Institut für Internetmarketing, das eben nur keinen Bindestrich hat und ansonsten in München zuhause ist, mit Kamenz nichts zu tun.
Der übliche Standard
Soweit es nun die Vorwürfe gegen Steinmeier betrifft, hat Kamenz diese laut Focus sowohl der Uni Gießen wie auch Steinmeiers Büro in Berlin vorgelegt. Der SPD-Fraktionsschef wird mit den Worten mehrfach am Sonntag in den überregionalen Medien mit den Worten zitiert, dass er den Vorwürfen gelassen entgegensehe. Das will insofern nichts heißen, da diese Reaktion zunächst von allen Politikern kam, die mit diesem Vorwurf konfrontiert wurden. Die Uni Gießen hatte zunächst, ungewöhnlich genug, sich am Sonntagvormittag (09:57 Uhr) genötigt gesehen, „aufgrund der aktuellen Berichterstattung“ eine Pressemitteilung zu versenden,mit der Mitteilung, dass erstens der Eingang des Schreibens bestätigt wurde und die Universität am 30. September entscheiden werden ‚wie weiter verfahren werde und zwar „im Rahmen ihrer bewährten und standardisierten Verfahren zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis“. Die Öffentlichkeit werde dann zeitnah informiert. Auch diese Ankündigung entspricht zunächst dem üblichen Standard.
Nicht der übliche Standard
Die Reaktion Kamenz auf die Bitte des Mittelhessenblog, Motive und Hintergründe für diesen Vorwurf zu nennen, abgesehen von dem, was bereits veröffentlicht wurde, war indes eigen: Als Originalquelle verwies Kamenz auf den Focus. Im übrigen sei der Prüfbericht online gestellt. Nur leider sei die Website vollständig überlastet. Wegen der Zugriffe. Sofern Kamenz einen Deal auf Exklusivität mit dem Focus hätte, wäre dies verständlich. Ginge es um ein besonderes technisches Verfahren, eine Erfindung, irgendetwas, das auch nur den Hauch einer privatwirtschaftlichen Geschichte hätte, wäre dies verständlich. Es wäre auch verständlich, wenn der Focus aufgrund eigener Recherchen nun eine Geschichte an Land gezogen hätte.
Hier liegt der Fall aber anders: Ein Fachhochschullehrer, der damit seines Zeichens einer Körperschaft des öffentlichen Rechts angehört, wirft einem Politiker vor, seine Doktorarbeit plagiiert, sich also mit fremden Federn geschmückt zu haben. Das ist nicht nur ein Vorwurf gegen den Politiker, sondern auch gegen die ihn betreuenden Wissenschaftler. Sowohl der Politiker heute wie auch Doktorvater und andere betreuenden Wissenschaflter gehören in der Regel wiederum zu einer öffentlichen Organisation oder bekleiden ein öffentliches Amt oder entsprechende Funktion.
Im aktuellen Fall wird es nun schwierig. Denn mit Professor Helmut Ridder, der prägend für das Gießener Modell bei der Verbindung von Rechts‑, Wirtschafts- und Politikwissenschaften bei der Juristenausbildung stand, ist einer der beiden wissenschaftlichen Betreuer Steinmeiers tot. Ridder starb 2007 in Biebertal. Bryde ist inzwischen emeritiert. Mithin wäre also eine plausible nachvollziebare Antwort nach Gründen und Motiven selbstverständlich gewesen. Im Grund kann eine Auskunftspflicht angenommen werden. Die Tatsache, dass Kamenz zumindest am Sonntag, nicht darauf eingeht, steht für sich. Wenn natürlich Kamenz in diesem Fall gar nicht als Hochschullehrer, sondern als privater Institutsinhaber gehandelt hätte, dann wäre seine Reaktion wieder verständlich, was sie in dem Zusammenhang aber nicht unbedingt besser macht. Was in dem Zusammenhang bemerkenswert ist: Zum Zeitpunkt dieser Recherche wies Kamenz Hinweis auf das Profnet auf der offiziellen Mitarbeiterseite der FH Dortmund ins Nichts: Wer auf den Link klickte, bekam die Anzeige: about blank. Wer indes mit genügend Wartezeit dann die eigentliche Seite des Profnet aufrief, bekam in Abhängigkeit von der Leitungsgeschwindigkeit dann das Bild, wie es in der zweiten Bildschirmkopie zu sehen ist: In der linken Spalte die Auflisung der verschiedenen Webprojekte einschließlich seiner Institutsseite. Dabei interessant die rechte Spalte mit der Zuordnung der Einträge: Die Meldung über die Analyse der Politikerdissertationen vom 22. April findet sich sowohl beim Institut für Internet-Marketing wie auch beim Projekt Plagiatfreies Deutschland. Neben dem Projekt PolDiss, das noch am 22. April vom Institut beworben wird, findet sich indes der aktuelle Hinweis auf den Focus mit Datum vom 30. 9. 2013. Mit der Geschichte über Steinmeier.
Spielt der Zeitpunkt eine Rolle: Machtpoker in Berlin?
Es wird sich zeigen, ob Kamenz Vorwurf im Grunde nur ein Marketingtrick war, um auf seine Dienstleistung und sein Plagiatsprojekt aufmerksam zu machen, wie der Tagesspiegel skizziert hatte, oder ob möglicherweise vielleicht auch der gewählte Zeitpunkt eine Rolle spielt: Bekanntermaßen findet in Berlin gerade das große Hauen und Stechen um die Neubesetzung der Regierungsbänke statt. Ein mit Plagiatsvorwürfen belasteter Politiker in einer Führungsfunktion wäre da natürlich ein gefundenes Fressen für die CDU der SPD im Verhandlungspoker die Daumenschrauben anzusetzen. Noch etwas anderes fällt auf: Sowohl Bryde wie Ridder gehören dem politischen Spektrum an, das gegenwärtig als potentielle Koalitionspartner der CDU gehandelt wird: Bryde war von den Grünen als Verfassungsrichter vorgeschlagen worden und Ridder gehörte dem linksliberalen Spektrum an. In Gießen war nicht nur Steinmeier sein wissenschaftlicher Zögling sondern auch die spätere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries. Heute ist sie die Justiziarin der SPD-Bundestagsfraktion, deren Sprecher Steinmeier ist.
Update: In Berlin beraten die CDU und SPD gerade über Sondierungen. Dass die CDU/CSU-Fraktion der SPD dabei „klare Kante“ zeigt, wird unter anderem in der Twitterline der Fraktion deutlich. Dort heißt es noch kurz vor dem Bericht aus Berlin, der um 18.30 Uhr in der ARD gesendet wurde: „Volker #Kauder @cducsubt in #BerichtausBerlin: „Mit uns gibt es keine Steuererhöhungen!“ Er habe kurz vor der Sendung mit #Merkel telefoniert“. In den Stunden vorher machten die Schlagzeilen über die Plagiatsvorwürfe gegen Steinmeier im Netz bereits die Runde wie unter anderem der aktuelle Blick in die Twitterschlagzeilen um 22 Uhr zeigt.
Update 2: 23:46 Uhr: Inzwischen ist die Website von Profnet wieder ohne Schwierigkeit mit Verbindung zum Prüfbericht erreichbar. Aus Sicherheitsgründen haben wir ihn hier archiviert.
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