Noch ein Nachruf? Reicht das nicht, wenn das die großen Medien erledigen? Ich finde nicht. Denn die Person Horst-Eberhard Richter hatte vom damals ewig weit weg scheinenden Gießen während der Schulzeit auch in die kleine Vogelsbergstadt Lauterbach ausgestrahlt. Außerdem gehörte der 1923 geborene Richter zur Generation der Männer, die als 17-jährige, 18-Jährige gerade noch eben Schüler in das Grauen gestürzt wurden, das Millionen das Leben kosten und viele zwar physisch überleben, aber sie Zeit ihres Lebens seelisch zeichnen sollte: Die Tötungsmaschinerie des Zweiten Weltkriegs, der mit normalen menschlichen Maßstäben nicht zu erklärende Irrsinn der Vernichtunglager der Nazis. Gut 20 Jahre danach war es speziell das Gebiet zwischen den Höhen des Lahn-Dill-Berglands, der Wetterau und um die Gebirgszüge des Vogelsberg das im Zentrum des Beginns des angenommenen Dritten Weltkriegs liegen sollte. Bis 1990. In diesem Gebiet wirkte Richter, nicht nur als Psychoanalytiker, sondern als d e r intellektuelle Kopf der westdeutschen Friedensbewegung.
Heute sind es zwar nicht millionenmordende Kriege, über Vernichtungslager ist ebenfalls nichts bekannt, aber die Kriege im Kosovo oder Afghanistan haben inzwischen ebenfalls Eltern ihre Kinder genommen, Kindern ihre Väter, den Bruder, Freund, Frauen den Mann. Stimmen, die friedvolles Miteinander anmahnen, gehen mitunter verloren im Chor derjenigen, die kraftvolles Auftreten durchaus als gangbare Alternative sehen, ihre Ziele durchzusetzen. Der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist klammheimlich wieder salonfähig geworden.
Der Blick zurück: Es gab kaum ein großes Thema der 70-er und 80-er Jahre, dass nicht im Sozialkundeunterricht, später im Gesellschaftskundeunterricht, durchgekaut wurde: Vietnam, Israel, die Sandinista, Pinochet, die zentralafrikanischen Dikatoren, aber auch in direkter Nähe: Die Bedrohung durch das Fulda Gap. Wer nicht aus Hessen stammt, generell seine Kindheit und Jugend nicht direkt in der Nähe des Eisernen Vorhangs verbracht hat oder keine Verwandten in der damaligen DDR hatte, die er gern besucht hätte, kann dies vielleicht nicht nachvollziehen. Aber immer dann, wenn gerade einmal wieder sowohl die Nato wie die Warschauer Paktstaaten mit den Säbeln rasselten, machten schnell Gedanken die Runde: So jetzt isses soweit, bald fliegen wohl die ersten Raketen. Dass dieses Gefühl nicht trog, belegen unter anderem die Pläne, die auf der Seite der dritten US-Panzerdivision„Spearhead“ (deutsch: Speerkopf) aus Gelnhausen einzusehen sind. Das Szenario, das dort entwickelt wird, lässt noch im Nachhinein schaudern: Einsatz nuklearer Sprengköpfe, wenn auch mit begrenztem Radius. Die diversen Standorte lassen sich an Hand des zur Verfügung gestellten Kartenmaterials erkennen.
In die gleiche Zeit fallen die Politik der Raketendoppelbeschlüsse, die Proteste gegen Atomkraftwerke und das geplanten Endlager Gorleben. Themen, die in der Schule immer wieder mit Thesen Richters unterfüttert wurden. Eine der wichtigsten Thesen war, dass der moderne westliche Mensch immer mehr drohe, die gewachsenen Fundamente des Glaubens als ethischem Grundgerüst zu verlieren und das Vakuum, das dabei entsteht, durch eine immer mehr zunehmende Fortschritts- und Technikgläubigkeit, insbesondere durch eine Naturwissenschaftsgläubigkeit ersetze. Darin sah Richter schon in den Endsiebzigern einen drohenden Werteverfall. Der geborene Berliner Richter sah damals schon die sich abzeichnende „geistig-moralische“ Wende vorher, deren Zeitgeist sich mit entsprechenden Werbestreifen wie „Mein Magnum und ich“ äußerte oder ebenfalls in einer Versicherungswerbung , die dazu einlud, sich als junger gut verdienender Mensch künftig nicht mehr um die eigenen Eltern zu kümmern, sondern um das eigene Wohlergehen. Dass Werbung ohnehin den Egoismus als Botschaft schon längst vereinnahmt hat, schreibt Stefan Petersen in seinem Blog Web-Ideas. Worauf Richter in den Endsiebzigern mit seiner These hinwies, hat nun wenige Tage nach seinem Tod ungeahnte Aktualität erfahren. Das Heidelberger Sinus-Institut hatte in einer Umfrage untersucht, wie evangelische und katholische Kirchenmitglieder zu ihrer Kirche stehen und was Religion und Glaube für sie bedeuten. Danach wollen rund eine Million aus den beiden Kirchen austreten. Der Studie zufolge sind evangelische mit 32. Prozent eher zum Austritt bereit als Katholische mit 1,6 Prozent. Rund 40 Prozent der Deutschen halten aber weiterhin für sinnvoll, ihre Kinder im Sinne von Glauben und Religion zu erziehen. Mit welcher Akzentsetzung diese Nachricht von den Medien verbreitet wird, zeigen die Beispiele der Onlineausgabe der Welt und des Domradios
Heute gibt es zwar längst nicht mehr das Fulda Gap. Dafür drohen in absehbarer Zeit Verteilungskämpfe um die Ressourcen dieser Welt. Welche Folgen der Kampf um den Erhalt des Euro und die politische Idee Europa haben werden, ist noch nicht klar. Klar ist aber auf jeden Fall, dass die Ideen Richters zum Erhalt des Friedens nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Sein Körper mag nun nach 88 Jahren den Dienst für einen wachen Geist aufgegeben haben. Wenn es aber heißt, dass ein Mensch erst dann wirklich tot ist, wenn niemand mehr an ihn denkt und nicht mehr von ihm spricht, dann wird Horst-Eberhard Richter sicherlich noch sehr lange leben.
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