Süßlicher Geruch liegt in der Luft. Fast wie Sauerkraut. Es ist sozusagen Sauerkraut. Für Kühe. Es ist Silage. Die, die sie bekommen, gehören zu einer alten Rinderrasse. Und sind gegenwärtig die Stars bei einer Reisegruppe junger Austauschschüler der Gießener Herderschule aus Singapur. Das Hofgut Friedelhausen bei Lollar im Landkreis Gießen gehörte zu einer ihrer Stationen. Das Besondere dieses Betriebes: Er gehört zu einem bundesweiten Netzwerk, in dem geistig behinderte Menschen nach antroposophischen Grundsätzen Arbeit, Unterkunft und Betreuung finden.
„Bei uns zuhause sehen wir Rinder eher im Zoo, nicht so in Ställen oder auf der Weide wie hier“, erklärt eine Austauschschülerinnen, als sie Angela Rust durch die Stallungen führt. Es ist eine Anglerherde. Rotfellige Tiere mit Hörnern. Keine Turbokühe, die auf maximale Milchleistung gezüchtet werden, sondern eine alte Rinderrasse, die zu den so genannten Zweinutzungsrassen gehört. Also Fleisch und Milch.
30 Tiere mit Nachzucht leben auf dem Hofgut. Gefüttert und gehalten würden sie nach den Richtlinien von Demeter, erläutert Angela Rust ihren Besuchern. Organic Farming ist das Stichwort. Artgerechte Landwirtschaft, Beachtung eines Gleichgewichts zwischen dem, was die Tiere fressen und was „hinten rauskommt“. Sie deutet auf den auf dem Hofgelände lagernden Mist. „Das ist soviel, wie es nötig für unsere Felder ist, auf denen wir das Futter für unsere Rinder anbauen“, sagt Rust.
In Singapur selber ist das Thema jedenfalls auch bekannt. Zwar gebe es in dem Stadtstaat so gut wie keine Landwirtschaft, informiert das Online-Lexikon Wikipedia: „Landwirtschaft ist fast nicht vorhanden“, heißt es. Doch die Netzfrauen berichten etwa schon 2015, dass der Stadtstaat mit so genannten „Skyfarming“ oder „Vertical-Farming-Projekten die Versorgung der Bevölkerung mit einem Grundnahrungsmittel wie Reis sicherstellen wolle. Überhaupt habe die Stadt mit ihren 5 Millionen Einwohnern den Ehrgeiz zur grünsten Stadt der Welt zu werden. Eines der Renommierobjekte sind die „Gardens by the Bay“.
Die Szenerie und das Konzept des mittelhessischen Hofguts, dessen Geschichte bis 1564 zurückreicht, sind dagegen ganz anders: Zwar geht es auch um Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Aber eben mit viel Platz für eine überschaubare Zahl an Menschen und Tieren. Denn das Hofgut ist heute eine Gemeinschaft aus Menschen mit Behinderungen und ohne Behinderung, wobei Grundlage eine antroposophische Haltung wäre, nennt Rust die Basis: „Jeder Mensch hat seinen Wert für die Gemeinschaft. Jede Arbeit, die er verrichtet, hat ihren Wert. Dabei kommt es nicht auf das Geld an. Arbeit und Geld fallen hier auseinander“, erzählt sie der Besuchergruppe. Sie selber sei seit rund 20 Jahren in Friedelhausen, habe vorher in Frankfurt gearbeitet. Also Hessens größter Metropole. Den Entschluss, in Friedelhausen zu arbeiten, habe sie bisher nicht bereut – auch wenn es erst einmal eine Umstellung gewesen sei.
Der landwirtschaftliche Betrieb mit dem angeschlossenen Verkauf seiner hofeigenenen Erzeugnisse im eigenen Laden und Wochenmärkten in der Region sei einer der Säulen, auf denen das Gut finanziell ruhe. Ein Herzstück der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ist der Käse, der aus der Milch der Anglerkühe gemacht wird.
Von der Milch bis zum verkaufsfertigen Käse dauert es in der Regel bis zu sieben Wochen. Hinzu kommen die Verkäufe eigener kunsthandwerklicher Erzeugnisse, die in den geschützten Werkstätten des Hofguts entstehen und die Betreuung der behinderten Menschen. Das Hofgut gehört in der Region Mittelhessen zu einem Netzwerk antroposophisch arbeitender Betriebe wie der Hofgemeinschaft Kehna im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Beide zusammen wiederum gehören einem Trägerverein an, der Hofgemeinschaft für heilende Arbeit, die selbst wiederum dem Bundesverband für antroposophisches Sozialwesen angehört. Mit seiner landwirtschaftlichen Arbeit als Demeterbetrieb hat es das Hofgut auch in das Netzwerk der Demonstrationsbetriebe Ökologischer Landbau geschafft.
In dem zentralen Versammlungsraum des ältesten Gebäudes des Hofgutes stellt schließlich eine der Singapurer Schülerin nach dem Rundgang durch Küche und Essensvorbereitung eine entscheidende Frage: „Dürfen die Menschen, die hier wohnen, denn auch heiraten?“
Natürlich dürften sie das, wenn sie das wollten, erwiderte Rust. Allerdings: „So lange ich hier bin, habe ich das noch nicht erlebt. Selbst, wenn wir das sozusagen gefördert haben, weil wir Paaren, die sich auf dem Hof immer umarmt hatten, dann Raum gegeben hatten, wo sie ungestört waren. Spätestens dann sind sie schnell wieder auseinander gelaufen und auf den Hof gegangen“, so Rust. Wie sie sagt, habe das mit den Formen ihrer Behinderungen zu tun.
Zwar lebe das Hofgut von der Gemeinschaft und davon, das viele Dinge gemeinschaftlich unternommen würden, ob das nun kulturelle Ausflüge seien, Spiele oder Feste. Dennoch habe natürlich jeder seine Privatsphäre, die ge- und beachtet werde.
Grundsätzlich könne jeder, der sich für das Leben und Arbeiten auf dem Hofgut interessiere, sich dort melden, erklärte Rust den Besuchern aus Singapur. Allerdings gebe es eine lange Warteliste, weil die Plätze begehrt seien. Gerade würden wieder neue Häuser gebaut.
„Man muss natürlich einen Bezug zum Leben mit Menschen mit Behinderung haben“, erklärt Geschäftsführer Milos Vaner gegenüber dem Mittelhessenblog. Aber jeder, egal ob mit oder ohne Behinderung, trage zur Gemeinschaft bei und bekomme etwas zurück. So könne zum Beispiel ein Rentner durchaus mit seinem Stock über den Futtertisch laufen und den Rindern noch übrig gebliebenes Futter in den Trog schieben. Auf der anderen Seite könnte ein Mensch mit Behinderung durchaus auch dem Rentner helfen.
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