Liebe Mittelhessenblogleser: Der spinnt ja, gerade hat doch die ARD erst ihre Themenwoche gebracht, kam zudem Supersize me über die Fast-Fooderitis und jetzt d a s! Ist der total abgedreht? Mag vielleicht der eine oder die andere von Ihnen und Euch, liebe Leser, angesichts der Schlagzeile dieses Artikels denken. Den rund 600 Frauen im mittelhessischen Buseck schien es jedenfalls nicht anders zu gehen, als sie hörten, was der Frankfurter Sportmediziner Professor Dr.Dr. Winfried Banzer ihnen zu sagen hatte. Die 600 Frauen waren nicht irgendwer, sondern die Vertreterinnen der größten hessischen Frauenorganisation, die es überhaupt gibt: Rund 50 000 Frauen gehören ihr an, besser ihm: Dem Verband der hessischen Landfrauen. Vor eben jener Organisation brach Wissenschaftler Banzer eine Lanze für einen entspannteren Umgang mit lästigen Pfunden, riet aber keineswegs dazu, diese einfach zu ignorieren. Banzer leitet an der Goethe-Universität in Frankfurt die Abteilung Sportmedizin, ist Beirat im Deutschen Olympischen Sportbund und hat für die EU in einer Expertengruppe die EU-Leitlinien mitentwickelt, die Ländermaßnahmen zur Förderung körperlicher Aktivität unterstützen sollen.
Die Lacher hatte der selber drahtig wirkende Mann im Busecker Kulturzentrum nach einem kurzen Moment ungläubig zum Rednerpult starrender überwiegend weiblicher 600 Augenpaare relativ schnell auf seiner Seite. Das Thema an sich weniger lustig: Nach Einschätzung des Regionalbüros für Europa der Weltgesundheitsorganisation WHO sollen die so genannten chronischen nicht übertragbaren Krankheiten für rund 77 Prozent für die Krankheitslasten in der EU verantwortlich sein. Die Ursachen lägen hierfür weniger in den ja bereits landauf landab progagierten Drogen Alkohol und Nikotin (Rauchen) sondern eher im mangelnden Obst und Gemüsekonsum, in mangelnder Bewegung, zu hohem Bluthochdruck und Cholesterin-Werten.
„Es verlangt ja keiner von Ihnen, dass Sie gleich Marathonläufer werden, aber ein wenig Bewegung täglich schadet nicht“, sagte Banzer. „Um es vielleicht ein wenig uncharmant auszudrücken: Wenn fett, dann fit“, plädiert er dafür, dass Übergewichtige im Vergleich zu Normalgewichtige eine bessere Überlebensquote haben, wenn sie sich fit halten. Um diese These zu illustrieren, verweist Banzer auf die Doppeldecker-Bus-Studie von Jeremy Morris aus dem Jahr 1953. Der Wissenschaftler hatte das Verhalten von Busfahrern und den Schaffnern in den zweistöckigen Gefährten über zehn Jahre untersucht und dabei etwas festgestellt, was eigentlich heute eine Binsenweisheit sein sollte: Nämlich die vorbeugende Wirkung von Bewegung gegen Herzinfarkte.
Um etwaigen Kritikern gleich von Anfang an den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte Morris gleich die Konfektionsgröße der Busfahrer und der Schaffner überprüfen lassen. Denn möglicherweise hätte ja jemand sagen können: „Ja, ist doch klar, dass die Busfahrer mehr herzinfrakt gefährdet sind. Die sind doch sowieso übergewichtig und sind keine Schaffner geworden, weil sie da den ganzen Tag Treppe laufen müssen. Dass die fitter sind, ist doch klar.“ Morris hatte dagegen festgehalten, dass die Konfektiongrößen der untersuchten Testpersonen gleich waren. „Natürlich stellte sich dann heraus, dass auch der Normalgewichtige, der sich nicht bewegt, mehr Probleme hatte als der Übergewichtige, der aber die ganze Zeit unterwegs ist.“
In ähnlicher Weise wie der Frankfurter Sportmediziner äußern sich aber spätestens seit dem der Europäischer Gesundheitsbericht der WHO im Jahr 2005 diverse Verbände, ob nun der Landessportbund in Baden-Württemberg oder etwa im benachbarten Österreich Volkshochschulen, die sich bei Gesundheitsportseminaren unter anderem auf den 2005-er WHO-Bericht stützen. Inzwischen ist allerdings der Europäische Gesundheitsbericht 2009 erschienen, zudem veröffentlichte die UN vor kurzem die neuesten Zahlen unter anderem über die Lebenserwartungen. Danach belegt Deutschland mittlerweile mit dem 10. Platz eine Spitzenposition. In dem neuen Bericht der WHO zur Gesundheitslage der über 500 Millionen Menschen mit über 53 Mitgliedsstaaten der europäischen WHO-Region heißt es aber auch vorsorglich, dass wegen der diversen Krisen, die Europa seit dem Erscheinen des Berichts 2005 erschüttert haben und wegen des Umbau der Gesundheitssysteme in den verschiedenen Mitgliedsstaaten deswegen Aussagen zu den Gesundheitsystemen und zum Gesundheitszustand mit einer „großen Unwägbarkeit“ verbunden sei. Unwägbar heißt soviel wie Unsicherheit, Schwierigkeit, eine Entwicklung sicher für einen bestimmten Zeitraum einschätzen zu können. An der Feststellung, dass die chronischen nicht übertragbaren Krankheiten einen Löwenanteil an Erkrankungen einnehmen hat sich allerdings nichts geändert, nur der Wert ist gestiegen. Statt von 77 Prozent ist jetzt von 80 Prozent die Rede. Dabei gilt es aber genauer hinzusehen: Denn der WHO-Bericht unterscheidet in der europäischen Region zwischen den alten E‑12 und E‑15 Staaten auf der einen Seite unterschieden, zu ihnen gehören etwa Deutschland, Frankreich oder die Benelux-Staaten, auf der anderen Seiten stehen unter anderem die GUS-Staaten wie Kasachstan. Bei diesem Vergleich schneiden die alten westeuropäischen Ländern in ihren Bemühungen, die chronisch nichtübertragbaren Krankheiten als Todesursache zurückzudrängen dramatisch besser ab. Genauso wird in dem neuen Bericht aber festgestellt, dass Frauen, je älter sie werden, umso mehr von Krankheiten verfolgt werden würden.
Eben jene Entwicklung hatte Banzer offensichtlich vor Augen, als er in Buseck erklärte, dass Männer sich weniger wegen ihres Body-Mass-Indexes Sorgen machen sollten, als vielmehr dafür sorgen, dass ihr Bauchfett nicht zunimmt, für Frauen dagegen könnten die „Polster an der richtigen Stelle“ durchaus auch heilende Wirkung haben.
Wenn nun kein Marathonlauf, welche Zeiten und wieviel Bewegung sind dann vernünftig: Bei 18 bis 64 Jahre alten Erwachsenen spricht Banzer von rund 150 Minuten an drei Tagen in der Woche, bei Jugendlichen von täglich mindestens 60 Minuten, die sie sich körperlich über den Mausklick hinaus bewegen sollten.
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