Kein Todesrad, dafür viel Wasser, Akrobatik ohne sichtbare Sicherung und schräge Komik: Flic Flac sorgte in Gießen mit seinem Jubiläumsprogramm „Punxxx- 30 Jahre nicht irgendein Circus “ für eine ausverkaufte Premiere im Zelt und für überfüllte Parkplätze rund ums Gelände der Hessenhallen.
Kein Todesrad – viel Wasser
Eigentlich, so sind sich Larissa Medved-Kastein und ihre Schwester Tatjana Kastein einig, werden bei Flic Flac keine Geschichten erzählt. Auch wenn die Programm-Namen der Vergangenheit das vermuten lassen. Es gehe eigentlich „nur“ um spannungsgeladene Momente. Die beiden Schwestern haben das Geschäft rund um die Flic Flac-Tour seit März 2019 komplett von ihrem Vater Benno Kastein übernommen und präsentieren mit der aktuellen Jubiläumsshow ihr Erstlingswerk. Die ausverkauften 1450 Plätze der Premierenveranstaltung in Gießen setzen das Echo fort, das mit der Deutschlandpremiere im Frühjahr begann.
Aber schon die Wahl des aktuellen Programmnamens ist eine Hommage an die Anfänge. Denn vor 30 Jahren hieß die erste Show „Nicht irgendein Circus“, mit der die beiden Artistenbrüder Benno und Lothar Kastein den Grundstein für einen Zirkus ohne Tiere legten.
Das Konzept: Waghalsige Stunts gepaart mit klassischer Artistik am Trapez, hoch unter dem Zirkuszelt und slapstickartigen Clown-Auftritten. Grundsätzlich hat sich an diesem Konzept bis heute nicht viel geändert.
Allerdings: Das Todesrad, eine Erfindung der beiden Gründer, ist in der aktuellen Show nicht zu sehen. Dafür viel Wasser. Rund 3000 Liter zirkulieren während der Auftritte des Duo Turkeev oder der Pole-Nummer von Olha Peresada über und durch die Luft über der Bühne. „Keine Sorge, das ist warm, bei diesem Wetter sogar angenehm“, sagt Unternehmenssprecherin Barbara Rott. Im Sommer allerdings , wenn diese Nummern aufgeführt werden, würden die Artisten sich eher über kühleres Wasser freuen.
Weltweite Talentsuche
Auf der Suche nach neuen Talenten für die Flic Flac-Shows reise ihr Vater um die ganze Welt, berichtet Tatjana Kastein. Egal ob Straßenkünstler, Varieteartisten oder Stuntleute, die Inspirationen die jeweiligen Shows kämen unter anderem aus dieser internationalen Rundshow. Internationalität ist überhaupt das Stichwort in dieser Branche. Bereits 2017 erklärten Justin Case und seine Frau Wendy Vousden im Gespräch mit dem Mittelhessenblog, wie wichtig offene, durchlässige Grenzen das A und O in diesem Geschäft seien. Heute ist es der Schwede David Eriksson, der auf die katastrophalen Auswirkungen solcher Dinge wie des Brexit hinweist. Eriksson erzählt von britischen Künstlern und Artisten, die angesichts der aktuellen Brexitlage existenzielle Sorgen plagen. In seinem Wohnwagen eher nachdenklich, präsentiert Eriksson später auf der Bühne und auf den Treppenaufgängen zwischen der Publikumstribüne einen exaltierten Mann in Pink, der die Grenze zwischen den Geschlechtern auflöst, Männlichkeitssysmbole in Frage stellt – eine Gesellschaftsmedizin, verpackt in schräge skurrile Dosen. Eingekleidet in pinke Hotpant, pinke Stöckelschuhe oder eine knappe plüschige Bolerojacke jongliert er mit klassischem Klempnerwerkzeug (Saugglocke für verstopfte Abflüsse), Ringen, Luftballons und Gläsern. Aus einer Abfolge schräger Jonglagetricks sticht eine Nummer besonders hervor: Seine eigenwillige Demonstration, wieviel Tischtennisbälle ein Mann mit seinem Mund wohl aufnehmen kamn: „Pfümmpff“ verkündet er stolz seinem Publikum.
Im Geist von Dada
Ganz anders dagegen sein Komikerkollege Dustin Nicolody: Der Italiener kommt konfettiwirbelnd in ein klassisch roten Zirkusclownaanzug gekleidet auf die Bühne, verblüfft mit der Aussage, alles sei eigentlich einfach und sichert sich die Aufmerksamkeit mit einer eigenwilligen Methode , Äpfel jonglierend Stück für Stück mit seinen Zähnen zu verkleinern. Klassische Clownskunst. Gut. Aber anders als Eriksson nur mit einer Nummer und alles andere als „PunXXX“.
Aus dem Off kündigte vorher ein Sprecher Nicolody mit seiner „Coperlin“-Nummer mit einer Erklärung über Punk an. Der alles andere als Ordnung und Sauberkeit bedeutet, sondern auf Nonkonformismus setzt. Im besten Sinne gelebter Dadaismus. Eriksson und Nicolody: Zwei Seiten einer Medaille oder besser eines Kunstgeistes, der in diesem Jahr seinen 100. feiert: Bauhaus und Dadaismus, dargeboten in einem schwarzgelben Zirkuszelt. Nicolody sticht damit heraus.
Mit der absoluten Präzision der „Holy Warriors“ aus China und den schwindelerregenden Kopfübermanövern des Brasilianer Alex Michael am Decken-Trapez präsentiert FlicFlac zwei weitere Gegensätze – die am Ende jeder für sich durchgeplant sind. Die chinesische Truppe führt minutiös abgestimmte Hochgeschwindigkeitsartistik an mobilen Ringen in verschiedenen Höhen vor. Sie springen durch die Ringe, hüpfend, laufend. Michael dagegen hangelt und schwingt mit seinen Füßen in Schlaufen, am Seil oder Querstange hängend ungesichert quer kurz unter der Zeltdecke…
Das verbindende Element beim Duo Turkejev, die schon vor zwei Jahren das Gießener Publikum begeisterten, Olha Peresada mit ihrer Tanzinterpretation von Purple Rain und schließlich der beiden Russinen Alina Karponich und Alisa Gashokina als Duo Splash ist das Wasser. Die Gegensätze: Während sich beim Duo Splash alles in einem und am Rande eines großen runden Wasserbeckens abspielt, führen das Duo Turkejev und Olha Peresada ihre Kunst an den Strapaten und an der Polestange jeweils eher in der vertikalen, raumgreifend über die Bühne vor . So wie der indische Mallakhamb-Artist Sandeep Kale, der sein Sportgerät, einen lange Holzpflock eigens mitgebracht hat, ebenfalls den kompletten Bühnenraum in allen drei räumlichen Dimensionen braucht – allerdings ohne Wasser…
In jeweiligen Hintergrundgesprächen klären Larissa Medved-Kastein und vorher Alex Michael auf. Die Chefin: „Natürlich ist alles sicher. Er ist für seine Nummer selber verantwortlich, prüft die Technik selber und sorgt für seine Sicherheit.“ Michael selber sagt, er habe keine Angst vor der Artistik ohne erkennbare Sicherung hoch unter der Zirkuskuppel. Nur Respekt. Das, was dem Publikum dennoch immer wieder den Atem anhalten lässt, ist für Alex Michael Routine.…
Kein Aus
Im Lauf von 30 Jahren hat Flic Flac Höhen und Tiefen erlebt. Einer Darstellung widerspricht Unternehmenssprecherin Rott indes mit Nachdruck. Flic Flac habe nie vor dem Aus gestanden. Vor zehn Jahren habe es lediglich einen Rückzug aus dem Tourneegeschäft gegeben und beide Töchter hätten erst einmal Erfahrungen als Artistinnen sammeln wollen. RP-Online hatte am 14. Mai 2010 getitelt „Der letzte Vorhang fällt“ und geschrieben „Jetzt soll erst einmal Schluss sein“. N‑TV hatte damals ebenfalls getitelt „Zirkus FlicFlac hört auf“ . Das Angebot über ein Verkauf des Unternehmens habe Benno Kastein damals aber wieder zurückgezogen, heißt es im N‑TV-Artikel weiter.
Mit seinem Stab an Artisten und Mitarbeitern hinter den Kulissen bewegt der Zirkus nahezu ganzjährig eine Dorf von rund 100 Menschen durch Deutschland. Das verursacht laufende Betriebskosten. Angesichts von Branchenklagen über Zuschauer, die eher darin wetteifern, möglichst günstig solche Shows geboten zu bekommen. wäre es spannend zu wissen, welcher Umsatz erwirtschaftet werden muss, damit ein solches Unternehmen Rücklagen für Investitionen, Neuentwicklungen, Verpflichtung von Artisten bilden kann. Aktuell hieß zu diesem Punkt nur: Dazu gibt es keine Auskünfte. Im Dezember 2018 hatte Unternehmensgeschäftsführer Uwe Struck im Gespräch mit dem Handelsblatt von acht bis zehn Millionen Euro Umsatz gesprochen, die 2018 erwirtschaftet würden. Und mit dieser Hausnummer hätten es Larissa Medved-Kastein und Tatjana Kastein dann auch 2019 zu tun.
Servicehinweis
Flic Flac gastiert in Gießen noch bis zum 20. Oktober. Wer die aktuellen Programm- und Eintrittskarteninformationen haben möchte, der klickt hier.
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