„Wir werden immer dagegen sein, wenn man Betriebsrats- und Behindertenvertretungs-Tätigkeit sanktioniert, egal welche exorbitanten Abfindungssummen geboten werden sollten“, sagte Rechtsanwalt Reimar Mewes, der den Betriebsrat der Oberhessischen Presse (OP) vertrat. „Dass Sie das hier so gesagt haben, werde ich mir für künftige Verhandlungen notieren“, entgegnete Matthias Schulze, der Anwalt der Geschäftsführung der OP, daraufhin drohend. Das war schon fast gegen Ende eines komplizierten Arbeitsgerichtstermins am Donnerstag, 5. September, in Gießen. Und es zeigt, in welcher Atmosphäre verhandelt wurde. Doch eins nach dem anderen.
Grob gesagt ging es zunächst darum, was genau zu den Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung gehört. Die Geschäftsleitung der OP hatte ein Telefonat, das ihre Schwerbehindertenvertreterin, Frau P., im Januar mit einer seit längerem erkrankten Kollegin geführt hatte, mit zwei Abmahnungen bestraft: die erste wegen Arbeitszeitbetrugs und eine zweite wegen Loyalitätsverstoßes.
Der Vorwurf des Arbeitszeitbetrugs stützte sich darauf, dass die Arbeitgeber der Ansicht waren, dass ein Anruf bei einer zwar kranken, aber nicht behinderten Kollegin nicht zu den Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung gehört. Damit wurde der Anruf in den Augen der Geschäftsleitung der OP praktisch zu einem privaten Telefonat, geführt während der Arbeitszeit.
Die zweite Abmahnung lag wohl letztlich darin begründet, dass Schwerbehinderte in einem Betrieb besonderen Schutz genießen. Das Unterstützungsangebot ihrer Schwerbehindertenvertreterin an die Kollegin sah der Arbeitgeber daher als illoyal an. Sie habe sich mit ihrem Anruf in eine von ihr angenommene Konfliktsituation zwischen Arbeitgeber und – erkrankter – Arbeitnehmerin eingemischt. Frau P., die auch die Schwerbehindertenvertreterin des gesamten Madsack-Konzerns ist, der 51 Prozent an der OP hält, klagte gegen die beiden Abmahnungen. Die Güteverhandlung Anfang Juli war bereits gescheitert, und deswegen trafen sich die streitenden Parteien am vergangenen Donnerstag erneut vor Arbeitsrichter Michael Schneider – diesmal rechts und links flankiert von je einem Laienrichter – zum sogenannten Kammertermin.
„Es spricht einiges dafür, das Beratungsangebot als Aufgabe der Behindertenvertreterin anzusehen“, sagte Schneider und verwies auf das neunte Sozialgesetzbuch, in dem auch das so genannte Eingliederungsmanagement geregelt ist. Die beiden Vertreter der Zeitung – der Geschäftsführer sowie der Prokurist und Chefredakteur – und ihr Anwalt beharrten jedoch auf ihrer Haltung und lenkten die Diskussion immer wieder auf Nebenschauplätze wie die Länge des Telefonats, die Uhrzeit, zu der es geführt wurde und die Tatsache, dass es während der normalen Arbeitszeit geführt worden sei. Frau P. hätte sich von ihrer normalen Arbeit ab- und nach dem Telefonat wieder dafür anmelden müssen, wenn sie es denn als Tätigkeit in ihrer Funktion als Schwerbehindertenvertreterin angesehen hätte.
Auch wenn dieser Vorwurf in den Abmahnungen gar nicht vorkam, äußerte Arbeitsrichter Schneider sich dazu ebenfalls kritisch. Der Arbeitgeber müsse das ausdrücklich fordern. In den meisten Betrieben sei es „gelebte Praxis“, das nicht so zu handhaben. „Das würde meines Erachtens den Betriebsablauf auch erheblich stören. Ob das wirklich gewünscht ist?“ fügte er zweifelnd hinzu.
Frau P. habe sich der kranken Kollegin regelrecht aufgedrängt. In eindringlichem Ton habe sie gesprochen und das Telefonat immer weiter führen wollen, obwohl die Kranke die Beratung abgelehnt und das Gespräch gerne beendet hätte. Das könne die kranke Redakteurin, die jedoch nicht anwesend sei, bezeugen. Mit dieser Darstellung stützte die Geschäftsleitung der OP den Vorwurf der Illoyalität gegenüber ihrer Schwerbehindertenvertreterin.
Die Verhandlung zu den beiden Abmahnungen wurde irgendwann abgebrochen und ging ohne Stühlerücken in die Güteverhandlung zu einem Beschlussverfahren über, deren Ausgang den Abmahnungsstreit hätte überflüssig machen können. Der Kreis der Beteiligten erweiterte sich nun um die Vertreterin des Betriebsrats der OP und ihren Anwalt Reimar Mewes, die die Verhandlung bis dahin in der ersten Zuhörerreihe verfolgt hatten. Der Prokurist und Chefredakteur der Zeitung verließ den Raum, weil er als Zeuge der Arbeitgeberseite dienen möchte. Zwei Zuschauer mussten den Raum ebenfalls verlassen, weil sie im Falle des Scheiterns der Güteverhandlung als Zeugen für Frau P. infrage kommen. Einem Mitglied des Betriebsrat fiel dies spürbar schwer, woraufhin Richter Schneider verständnisvoll aber bestimmt auf die Wichtigkeit dieses Vorgehens verwies. Die Güteverhandlung scheiterte ja auch.
Verhandelt wurde über die fristlose Kündigung, die die Oberhessische Presse Frau P. zwischenzeitlich auch noch ausgesprochen hatte. Im Falle der Kündigung einer Schwerbehindertenvertretung muss der Betriebsrat seine Zustimmung erteilen. Der jedoch hatte sie verweigert. Daraufhin hatte die OP ein Zustimmungsersetzungsverfahren eingeleitet.
OP wirft Schwerbehindertenbeauftragter Arbeitszeitbetrug vor
Arbeitszeitbetrug lautete auch hier der Vorwurf der Geschäftsleitung der OP gegen ihre Schwerbehindertenvertreterin. Doch nun ging es um mehr als um ein Telefonat. Gestritten wurde um 274 Minuten, an denen Frau P. nicht gearbeitet haben soll, obwohl sie diese Zeit als Arbeitszeit angegeben hatte. Die Oberhessische Presse stützte ihren Vorwurf vor allem auf die Zeugenschaft einer weiteren Mitarbeiterin, der man die Überwachung von Frau P. aufgetragen hatte. Frau P. sagt aber, sie sei während der fraglichen Zeiten ihrer Aufgabe als Schwerbehindertenvertreterin nachgegangen und könne dafür auch Zeugen angeben.
„Es kann nicht sein, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit zum Gegenstand eines Arbeitsrechtsverfahrens gemacht wird,“ sagte Reimar Mewes. „Wir finden das Verfahren nicht glücklich.“ „Meinem persönlichen Eindruck nach stellt sich in der Gesamtschau alles so dar, dass man eine unbequeme Mitarbeiterin loswerden will“, sagte Jürgen Wölflein, der Anwalt von Frau P., unter anderem. „Dass sich die Parteien nicht mögen, ist zu erahnen“, meinte darauf Arbeitsrichter Schneider. Einigungsbereitschaft war denn auch nicht vorhanden. Frau P. wolle ihren Arbeitsplatz behalten, betonte Wölflein. Man sei jedoch bereit, sich über die Gestaltung der Schwerbehindertenarbeit zu einigen. Die Vertreter der OP-Geschäftsführung wiederum sahen keinen Regelungsbedarf, sondern beharrten darauf, dass das Vertrauen zerstört sei. Zur Not werde man ein weiteres Verfahren anstrengen. Das klang wie eine Kriegserklärung. „Kann eine fristlose Kündigung ausgesprochen werden, falls der Verdacht des Arbeitszeitbetrugs sich als falsch erweist?“, fragte Richter Schneider. „Das wäre ja ein komisches Ergebnis.“
Auf ein Ergebnis müssen alle Beteiligten jedoch jetzt mehr als vier Monate warten. Ende Januar ist Kammertermin. Dann werden die Zeugen, die zur Güteverhandlung den Saal verlassen mussten, gehört werden, ebenso wie die Kollegin, von der Frau P. im Auftrag der Geschäftsführung überwacht wurde.
Über die Abmahnungen haben die Richter zwischenzeitlich entschieden, wie Jürgen Wölflein dem Mittelhessenblog auf Nachfrage einen Tag nach den Verhandlungen mitteilte. Sie sind nicht gerechtfertigt und müssen aus der Personalakte der Schwerbehindertenvertreterin entfernt werden. Eine Prognose über den Ausgang des Kammertermins im Zustimmungsersetzungsverfahren zur fristlosen Kündigung wollte Wölflein daraus jedoch nicht ableiten.
Richter Michael Schneider begründete auf Nachfrage des Mittelhessenblog das Urteil: Die Abmahnungen seien unverhältnismäßig im Vergleich zu den Vorwürfen gewesen, und die Kammer sehe zudem die kurze Kontaktaufnahme vom Behindertenrecht gedeckt. „Und selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, dass es nicht zur Arbeit einer Schwerbehindertenvertreterin gehört, ist es dennoch keine grobe Pflichtverletzung“, so Schneider.
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