Geht es um die Flüchtlingskatastrophen der vergangenen Monate auf dem Mittelmeer, werden in der Regel Zahlen genannt. Namen von Menschen und Schiffen verschwinden. Die Geschichte der „Haj Zaher“ ist ein Detailblick auf ein Geschäft, das mit der unmittelbaren Not von Menschen gemacht wird. Und es ist der Versuch einer Spurensuche nach 235 Menschen, von denen einige Hoffnung hatten, in Deutschland, speziell im hessischen und im Gießener Raum Fuß fassen zu können.
(Anmerkung: Die Fakten stützen sich auf eigene Recherchen und Berichte von Kollegen in ausländischen Medien. Im deutschsprachigen Raum hatte die FAZ das Thema kurz am 4. Januar gestreift, ohne das Schiff namentlich zu nennen, den Schwerpunkt eher auf die Frachter Blue Sky M und Ezadeen gelegt. Das aktuelle Bild der Haj Zaher entstand im einzigen Frachthafen Nordzyperns in Famagusta.)
Das Schiff, um das es geht, ist die Haj Zaher. Die Menschen, um die es geht, kommen aus Syrien, dem Irak, Palästina und Turkmenistan.
„Sie kommen aus Gießen? Da wollten im November auch ein paar von den Flüchtlingen hin“, erzählt die junge Kyrenierin. Sie ist Zypriotin. Genauer gesagt, Nordzypriotin. Und arbeitet in unmittelbarer Nähe des Hafens in der uralten Hafenstadt, die die Griechen Kyrenia nennen und die türkisch sprechenden Nordzyprioten und die Türken Girne. Ihren Namen will sie nicht nennen. „Man kann nicht wissen, wer das so alles liest. Aber so viel ist sicher, ich hatte damals mit ein paar von den Flüchtlingen sprechen können, die mit der Haj Zaher kamen. Einige von ihnen sind Christen, syrisch-orthdox. Sie wollten nach Deutschland, nach Bayern und nach Hessen.. Aber dann wurden ja alle wieder zurück nach Mersin geschickt. Und ob sie von dort noch einmal aufbrechen konnten, ist fraglich“, sagt die junge Frau.
Was sie sagt, steht im Widerspruch zur offiziellen Feststellung des nordzyprischen Transportministers Hasan Tacoy. „Sie wollten alle wieder zurück in die Türkei geschickt werden“, wird der Arbeits- und Transportminister der außer von der Türkei international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern in der nordzyprischen Onlinezeitung kpdailynews.com am 25. November zitiert.
Den Wunsch der Flüchtlinge, vom (internationalen) Roten Kreuz versorgt zu werden, hatte Tacoy „lächelnd“ mit dem Hinweis erwidert, auf Nordzypern gäbe es ja den Türkischen Halbmond.
Im November 2014 ist gerade das italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum zu Ende, wird abgelöst durch das EU-Programm Triton. Nur beide zielten und zielen eher auf die Küste Nordafrikas. Auf Libyen.
Was im Osten des Mittelmeers geschieht, will keiner so genau wissen, scheint es. Dabei ist Mersin einer der, wenn nicht d e r zentrale Anlaufpunkt für die Menschen, die vor dem Bürgerkrieg aus Syrien flüchten. Wenn sie es über die stark gesicherte Grenze der Türkei zu Syrien schaffen oder eben von der syrischen Küste es über das Meer nach Mersin kommen..
In der Nacht vom 22. auf den 23. November macht sich die „Haj Zaher“ bei Mersin auf den Weg. Es ist kein modernes Schiff. Beileibe nicht. Sondern ein Frachter, Baujahr 77, gebaut von der albanischen Werft Durres Gdansk Kantieri Detar. Im Laufe dieser Jahre wechselt der Frachter mehrfach seinen Namen und den Besitzer.. An Bord ist ein Bagger in der Mitte des Schiffes fest montiert. Damit ist das Schiff für den Transport von Massenschüttgut wie Sand, Kies oder anderem Schüttgut eher gedacht. Von der Größe her ist es auch eher für den Einsatz in küstennahen Gewässern gedacht als für eine Route, die es von der Küste weg in tiefes Hochseegewässer führt. Das Schiff wird von diversen Marinefotographen, darunter ehemalige Kapitäne, in einschlägigen Marineforen als kleiner Frachter bezeichnet.
Seit Oktober 2010 fährt der Frachter unter tansanischer Flagge, Eigentümer ist die ägyptische Reeder Tarabia MMKI aus Darmiette. MMKI steht für Mohamed Mohamed Khalil Ismail.
Ob der Frachter nun früher schon als Schleuserschiff unterwegs war oder nicht, das ist offen. Die Anzeichen jedenfalls sprechen dafür, dass er am 22. auf den 23. November in Mersin ablegt. Als Schleuserschiff. Mit 235 Menschen an Bord, die jeder rund 6500 Dollar für die Überfahrt bezahlt haben sollen. Allerdings nicht nach Kyrenia oder Girne, wie die Hafenstadt an der Nordküste Zypern türkisch heißt. Sondern mit dem Zielort Italien. Und von dort wollten einige weiter nach Deutschland. Unter anderem nach Gießen. Wo sie bis heute nicht angekommen sind.
Nach Einschätzung der Gießener Flüchtingshilfeberaterin Maria Bethke „klingt das alles eher nach einer ‚Push Back‘-Aktion. Das könnte für Pro Asyl interessant sein, sich damit näher zu befassen.“ Sie halte es allerdings eher unwahrscheinlich, dass ein größerer Teil der Flüchtlinge direkt in Gießen angekommen sei. „Wenn sie hier ankommen, werden sie über die Erstaufnahme bundesweit verteilt. Nur ein Teil darf dann in Hessen oder in Gießen bleiben“, sagt Bethke.
Bei „Push Back“, so erklärt es Pro Asyl, handele sich um völkerrechtswidrige Aktionen an der griechischen und türkischen Grenze gegen Flüchtlinge. Die Organisation macht unter anderem Deutschland und Österreich gemeinsam mit dafür verantwortlich, auf Griechenland Druck ausgeübt zu haben. Die griechische Grenze sei offen wie ein Scheunentor gewesen, habe 2012 Österreichs Innenminsterin Mikl-Leitner „geätzt“ und mit dem damaligen deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich Druck auf Griechenland ausgeübt.
Im Fall der Haj Zaher hätten die Flüchtlingen wissen wollen, ob sie auf EU-Gebiet seien. Der nordzyprische Minister habe ihnen darauf die Lager erklärt, berichten die lokalen nordzyprischen Medien. In der amerikanischen New York Times wird Tacoy am 23. November mit derFeststellung zitiert, ihre Fälle würden „gemäß der internationalen Regeln für Migranten“ behandelt. In der Praxis hieß das: Bis auf einige schwangere Frauen und ihre Angehörigen wurden alle anderen wieder zurück nach Mersin geschickt.
Offiziell wird Nordzypern international als Teil der Republik Zypern gesehen. Zypern wiederum ist EU-Mitglied. Nur faktisch ohne Einfluss auf die Dinge, die in Nordzypern passieren.. Der Umgang mit Flüchtlingen und Asylanten wird allerdings für Zypern insgesamt von den einschlägigen Flüchtlingshilfeorganisationen und Amnesty International kritisch gesehen. Die in Berlin ansässige Organisation Borderline Europe machte auf Anfrage speziell auf einen 2013_erschienen Bericht der Kontakt und Beratungsstelle für Flüchtlinge (KUB) über den Umgang mit dem Asylrecht in dem Land an der EU-Außengrenze aufmerksam. Darin werden Zypern schwere Verstöße und Missgriffe gegenüber Asylanten zur Last gelegt. Mit anderen Worten: Die 235 Menschen, die pro Kopf an die ägyptische Reederei MMKI 6500 Dollar gezahlt hatten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, in der Hoffnung, unmittelbarer Todesgefahr entfliehen zu können, sind in der Nacht vom 22. auf den 23. November 2014 vom Regen in die Traufe geraten, als sie zum überwiegenden Teil wieder nach Mersin zurückgeschickt wurden.
Kommentiert: Am Ende zählt jeder einzelne Mensch, der aus unmittelbarer Todesgefahr gerettet werden kann, der mit seiner Familie die Chance erhalten kann, an anderem Ort wieder ein normales Leben führen zu können. Nur der Blick konzentriert sich medienwirksam immer wieder auf das Gebiet zwischen Italien und der nordafrikanischen Küste, speziell Libyen. Das östliche Mittelmeer gehört indes nicht erst seit Jahresbeginn auch zu den Wegen, die Menschen nehmen, um nach Europa zu kommen. Und im Fall der Haj Zaher ist zumindest bemerkenswert, das nach dem gegenwärtigen Stand die Geschichte des Schiffes, das offensichtlich zur falschen Zeit am falschen Ort in Seenot geriet, zwar in der New York Times, der britischen Daily Mail, der französischen Le Monde sowie diversen südosteuropäischen Medien einem internationalen Publikum erzählt wurde – den deutschsprachigen Medien bis auf die FAZ anscheinend noch nicht einmal eine Randnotiz wert war. Waren Nordzypern und die Türkei trotz aller berechtigten grundsätzlichen Kritik die „falschen Länder“, über die man in d i e s e m Zusammenhang nicht berichten wollte? Oder war schlichtweg niemand zum passenden Zeitpunkt in erreichbarer Nähe?
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