„Die Ukraine ist weit weg und wir haben hier andere Probleme“. Sicher. Aber für 80 Euro kann man sich in Gießen in den Fernreisebus setzen und ist innerhalb eines Tages in Kiew. In Gießen und anderen mittelhessischen Kommunen leben Zuwanderer und Neubürger aus Russland und der Ukraine. Firmen engagieren sich in Russland. Die Uni Gießen unterhält Beziehungen nach Kazan. Die Ukraine und Russland sind uns näher als die USA. Und sie gehören zu Europa. Darum ist es wichtig in diesen Tagen genau hinzusehen, was dort vor unserer Haustür geschieht.
Aktuelle Tagung zur Krimkrise in Gießen
Aktuell zu diesem Thema veranstaltet die Uni Gießen am 20. März mit dem Titel „Ukraine quo vadis? Die Krim-Krise und die deutsch-polnische Kooperation“ eine Podiumsdiskussion aus deutsch-polnischer Sicht auf den Umgang mit den Vorgängen in der Ukraine. Die Podiumsdiskussion findet im Rahmen der dritten Tagung Deutsche Polenforschung statt. Träger sind das Deutsche Polen-Institut Darmstadt, das Gießener Zentrum Östliches Europa an der Justus-Liebig-Universität Gießen und das Herder-Institut Marburg. Die Diskussion findet von 15 bis 17 Uhr im Margarete-Bieber-Saal statt, (Ludwigstraße 34, vor dem Uni-Hauptgebäude). *
Eigene Rubrik beim Mittelhessenblog
Die Aktualität des Themas ist deswegen auch für das Mittelhessenblog ein Grund bis auf weiteres eine Rubrik für den Blick Richtung Russland und Ukraine einzurichten. Diese Rubrik besteht aus diesem Auftaktartikel. Für die Zukunft wird eine feste Seite eingerichtet. Auf diese wird dann via Facebook, Twitter und Google+ hingewiesen, wenn neue Beiträge in dieser Seite erscheinen werden. Allein deswegen schon lohnt es sich, bei einem dieser drei sozialen Netzwerkdienste ein Konto zu haben. Diese Medienschau wird im wesentlichen eine kommentierte Querschau über Veröffentlichungen bieten, die sich aktuell mit dem Themenkomplex Ukraine, Russland und EU befassen. Im Blickpunkt liegen neben den konventionellen Leitmedien auch Veröffentlichungen in Blogs, auf Youtubekanälen und anderen Onlinediensten aus dem deutschsprachigen, englisch- und französischsprachigen Raum. Den Schwerpunkt wird das Mittelhessenblog dabei auf Medien lenken, die in ihren Informationen von den gängigen Meldungen der überregionalen Medien abweichen. Warum das ganze? Um eine Ergänzung zu den üblichen Nachrichten zu bieten, eine Grundlage für eine breitere persönliche Meinungsbildung unter den Mittelhessenbloglesern.
„Russland war 1991 noch schwach“
Den Anfang machen wir mit „Le Courrier de Russie“. Das 2003 von Philippe Pelé Clamour, Jean-Luc Pipon und Emmanuel Quidet gegründete Magazin sitzt in Moskau, erscheint in französischer und russischer Sprache, berichtet aus verschiedenen osteuropäischen Ländern. Inna Doulkinna, Chefredakteurin seit 2007, schreibt am 10. März in ihrem Artikel „Die Sonne scheint stark in Sebastopol“ -(Le Soleil brille plus fort à Sébastopol)
„En 1991, la Russie était trop faible pour prendre leur défense. Mais nous ne sommes plus en 1991. – „1991 war Russland zu schwach, um sich zu verteidigen. Nur wir sind nicht mehr im Jahr 1991“.
Doulkinna schreibt, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion die Russen, die in neu entstehenden Nationalstaaten blieben, letztlich als Bürger zweiter Klasse in diesen Staaten behandelt worden seien. Letzteres gelte auch für einige Baltenstaaten.
„Der Fehler liegt in Kiew“
Die Tatsache, dass Russland falsch eingeschätzt worden sei in seinen Reaktionen, ist eine Position, die sich im Grunde erst jetzt, nach zwei Wochen, so langsam durchzusetzen beginnt. Allerdings nicht bei den aktuellen Entscheidungsträgern sondern bei den „alten Hasen“ wie dem Ex-US-Außenminister Henry Kissinger. Der ehemalige EU-Erweiterungskommissar, Günter Verheugen (SPD), stellte seit Beginn dieser Woche fest (WDR 5, Deutschlandfunk), dass das eigentliche Problem nicht die Politik Russland oder der EU bzw Deutschlands sei. Der Knackpunkt sei die Tatsache, dass sich in Kiew, offensichtlich mit der bisherigen Duldung des Westens eine Regierung etabliert habe, in der ganz offensichtlich rechtsextreme, faschistische Kreise beteiligt seien. Verheugen sprach von der Partei Svoboda. Deren Parteichef hatte sich gegen diese Vorwürfe in den vergangenen Tagen gewehrt. Er sei aus dem Zusammenhang heraus zitiert worden. Im übrigen seien diese Aussagen zehn Jahre alt.
Angesichts der Argumentation, wie sie Inna Doulkinna bringt, dürfte es unerheblich sein, ob Svoboda 2004 diese Gedanken hatte oder jetzt. Sie passen einerseits zur Schilderung von Übergriffen, die Doulkinna aus der Zeit nach 1991 beschreibt und zum anderen zu den Befürchtungen, die heute von russischer Seite vorgebracht werden.
Wird die Idee der bürgerlichen Demokratie von Putin verteidigt?
Die Verteidigung, die Svoboda in vorbringt, wirkt eigen, wenn man gleichzeitig weiß, dass Svoboda seit 2009 einen Beobachterstatus bei der „Allianz der Europäischen nationalen Bewegungen“ (AEMN) hat. Die AEMN ist 2012 als politische Partei auf europäischer Ebene anerkannt worden und bildet eine Plattform für Parteien, die zumindest als europakritisch gelten bishin zur Klassifizierung als rechtsextremer Partei, berichtet Martin Banks Februar 2012 in The Parliament. So sehr sich Svoboda von diesem Beobachterstatus anscheinend eine gewisse Rufverbesserung erhofft haben mag, so sehr beobachtet die AEMN die Vorgänge in der Ukraine mit Blick auf Svoboda kritisch: Mit Blick auf die sowjetische Geschichte lässt die AEMN das Argument nationalistischer Ukrainer nicht gelten, wenn diese mit Übergriffen von Russen auf Ukrainer während der 30er Jahre ihr heutiges Handeln begründen. Damals sei der Terror von Sowjets ausgegangen und nicht Russen. Weiter weist die AEMN auf die Massaker hin, die Ukrainer in den 40er Jahren an vielen Polen und Ungarn begangen hätten. Die AEMN zeigt vor dem Hintergrund zumindest Verständnis für die Sorgen Putins, Ukrainer mit russischem Hintergrund vor Übergriffen schützen zu wollen. Die AEMN bringt eine Variante ins Spiel, die in der bisherigen Debatte fehlt. In ihrer Pressemitteilung schreibt die AEMN am 5. März, das möglicherweise eine Teilung der Ukraine nach dem Vorbild der ehemaligen Tschechoslowakei oder auch eine Strukturierung nach Schweizer Vorbild eine Lösung sein könnte – ein Gedanke, der der offiziellen Politik der Ukraine zuwiderläuft.
Demokratie und/oder Arbeitsplätze?
Für die offizielle EU-Politik scheint es dagegen ausgemachte Sache zu sein, dass die Ukraine ihre volle territoriale Unversehrtheit behalten müsse. Frankreich und Deutschland verfolgen dabei bei der Durchsetzung der angedrohten Sanktionen unterschiedliche Geschwindigkeiten. Frankreich will einen Kauf von zwei Kriegsschiffen der Mistralklasse platzen lassen. Das gehöre dann schon zur dritten Stufe der Sanktionen, erklärte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius am Wochenanfang in TF1. In Saint Lazaire in der Bretagne werden mit der Sevastopol und der Vladivostok zwei Hubschrauberflugzeugträger der Mistralklasse gebaut. Die Verträge dafür wurden 2011 geschlossen. Obwohl die französische Regierung weiß, dass diese Maßnahme die eigene Bevölkerung durch den Wegfall von Arbeitsplätzen treffen würde, wolle sie hart bleiben, sagte Fabius in dem französischen Fernsehsender.
In Deutschland dagegen hat der Energiekonzern RWE noch ein Geschäft mit den Russen unter Dach und Fach gebracht. Mit Michail Fridmann, ein geborener Lemberger (1964 damals noch in der Ukrainischen SSR) ist ausgerechnet einer der, wenn nicht d e r zur Zeit einflussreichste Oligarch aus Putins Machtzirkel der Handels- und Vertragspartner von RWE. Der deutsche Energiekonzern hat für 5,1 Milliarden Euro seine angeschlagene Gasfördertochter DEA an die LetterOne-Gruppe verkauft und damit gleich 0,6 Milliarden Euro an Verbindlichkeiten. Bis der Vertrag endgültig unter Dach und Fach ist, müssen allerdings noch der Aufsichtsrat und verschiedene Länderbehörden zustimmen. Der Deal zwischen dem deutschen Energieversorger und dem ukrainischen Russen oder russischen Ukrainer Fridmann sorgt jetzt schon bei den Großkoalitionären für gegensätzliche Stimmungsbilder. In der CDU geht die Stimmung eher gegen den Verkauf wegen zu großer befürchteter Abhängigkeit von Russland, SPD-Chef Gabriel, seines Zeichens Vizekanzler und Wirtschaftsminister sieht letztlich keine Bedenken.
Spannend dürfte deswegen die Debatte allein schon im Aufsichtsrat von RWE werden. Dem gehören neben Vertretern der lokalen Politik unter anderem von Arbeitnehmerseite Schwergewichte wie Werner Bischoff (Ex-Vorstandsmitglied von IG Bergbau, Chemie und Energie) und Verdi-Chef Bsirske an. Blickt auf die öffentlichen Anteilseigner, also Kommunen und andere, liegt deren Anteil bei 25 Prozent. Die Position der Bundeskanzlerin, Russland mit Wirtschaftssanktionen zu drohen, dürfte in den nächsten Tagen noch zu angeregten Unterhaltungen führen.
Putin fechten die westlichen Sanktionen nicht an
Die Entschlossenheit, seine Krim-Politik trotz Nachteile angesichts der drohenden Sanktionen durchzusetzen, schreibt die Süddeutsche Zeitung in einer Analyse Putin zu. Er wisse die Russen hinter sich, die eher dafür seien, dass Russland wieder Stärke zeige anstatt sich weiter auf Kompromisse einlasse um wirtschaftliche Folgen zu vermeiden. Putin solle den Eliten in Russland bereits frühzeitig gesagt haben, ihre Gelder in Sicherheit zu bringen..
Wie sich die aktuelle Politik auf die heimische Wirtschaft auswirken wird und damit ebenfalls auf Arbeitsplätze ist noch völlig offen. Vor rund einem Jahr warb etwa die Volksbank Mittelhessen noch für Russland als lohnendes Land für deutsche Investoren. Auf ihrem Portal wird eine Nachricht von der Hannovermesse 2013 verbreitet. Damals war Russland deutsches Gastland. Bernd Holmes von der Germany Trade and Invest (ehemals Bundesstelle für Außenhandelsinformation bfai) sagte damals, Russland habe milliardenschwere Investitionsprogramme für die Entwicklung der Infrastruktur und Modernisieriung der Industrie in Planung, sei daher ein interessantes Land für deutsche Unternehmen. Gleichzeitig sei Russland auch als Partner im Energiesektor interessant – dort selber als Investor. Aktuell jedenfalls fürchten viele Mittelständler um ihre Investitionen in Russland.
In der Reihe der kritischen Stimmen, die vom einschlägigen Medienstream abweicht und die Fakten nüchtern nennt, gehört der Beitrag von Dirk Müller, bekannt als Mister DAX. In einem Videobeitrag vom 10. März ging Müller auf diese Lage ein. Mit Blick auf die inzwischen stattgefundene Abstimmung über die Zukunft der Krim. Interessant unter anderem seine Anmerkung über den Bezug von 35 bis 40 Prozent von Erdöl und Gas.
* Nähere Infos zur Podiumsdiskussion am 20. März.
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