PCB: Das Kürzel steht für polychlorierte Biphenyle. Klingt nach viel Chemie. Ist auch so. Und Chemie ist, wenn es knallt und stinkt. Und manchmal heiß ist. In Gießen knallt und stinkt es zur Zeit heftig. Und heiß ist es auch. Im übertragenen Sinn und im wörtlichen. Denn: Mitten in den schönsten hessischen Sommerferien explodierte die PCB-Bombe. In der Herderschule in Gießen. Ein Gymnasium. Plötzlich mussten wegen extrem überhöhter PCB-Werte zwei Drittel der Schule geschlossen werden. In der Kongresshalle in Gießen gab es nun einen Infoabend. Für Eltern und Schüler. Eingeladen hatte die Stadt. Nach mehr als drei Stunden sprach eine Mutter aus, was dem zustimmenden Applaus nach zu schließen viele dachten: „Ich war gekommen, in der Hoffnung, dass Sie aufklären, mir, uns, die Ängste nehmen. Das haben Sie nicht getan.“
[Redaktionelle Anmerkung: Am Ende dieses Artikels finden sich weiterführende Links und Belege]
In dem vollbesetzten Großen Saal der Kongresshalle herrschte nach den rund einstündigen Expertenvorträgen buchstäblich dicke Luft, die sich in einer gut zweistündigen Diskussion entladen sollte. Ob an der dicken Luft eventuell auch PCB-Ausdünstungen in der Kongresshalle schuld waren, ist nur eine Vermutung. Aber vielleicht auch eine Untersuchung wert. Erbaut wurde diese in den Nachkriegsjahren.
Keine Vermutung sind dagegen die weit über das normale Maß hinaus gehende PCB-Werte in dem Gießener Gymnasium – das im Westen der Stadt Gießen sich unter der Hand auch zu einer Schule entwickelt hat, die nicht nur Gießener Stadt- und Landkreiskindern eine Heimat gibt, sondern auch Schüler aus dem benachbarten Landkreis Lahn-Dill anzieht.
Um den Eltern Rede und Antwort stehen zu können, waren nicht nur Schuldezernentin Astrid Eibelshäuser und Hartmut Klee gekommen, der seit 1993 das Gießener Hochbauamt leitet. Zur Seite standen ihnen Professor Thomas Eikmann, Direktor des Instituts für Hygiene und Umweltmedizin am Uniklinikum Gießen und Marburg (UKGM) , Reimund Lich, Geschäftsführer des Lindener Ingenieurbüros Liscon, Thomas Schwieger, Leiter der Gefahrstoffmessstelle UEG aus Wetzlar, sowie Arno Bernhard, Leiter des städtischen Schulamts. Für die Herderschule selber war Schulleiter Dieter Gath gekommen, der gemessen an den Applausgraden der offenkundige Sympathieträger des Abends war.
Für das Gesundheitsamt des Landkreis Gießen war Dr. Jörg Bremer erschienen – dessen Rolle sich im Gespräch mit Moderator Klaus Pradella am Ende der bald dreistündigen Veranstaltung darauf beschränken sollte, zu sagen, dass er zur angekündigten Blutuntersuchung der Schüler und Lehrer eigentlich direkt an Professor Eikmann weiterverweise. Insofern ist die Frage berechtigt, wieso Bremer überhaupt erschienen war.
Eikmann lieferte einen in die Tiefe gehenden Vortrag über die Herkunft und die Rolle der PCB ab, brachte aber genau dort, wo Eltern Antworten erwarteten, nämlich, was es denn nun mit dem PCB inVortrag Professor Dr. Eikmann der Atemluft auf sich habe, wie gefährlich denn dieses sei, nicht die Antwort, die diese sich erhofften. Eikmann wies im Laufe des Abends wiederholt darauf hin, dass er für die Ereignisse an der Herderschule nicht verantwortlich sei und eher für eine nüchterne Betrachtung der Fakten sei. Diese wolle er darstellen. Nach Eikmanns Darstellung liegen die Grenzwerte für die PCB-Raumluft-Belastung in Hessen zwischen 300 und 3000 Nanogramm je Kubikmeter.
„Das ist bewusst falsch dargestellt“
Und genau dies, so erklärt inzwischen Jürgen Jäger von der GEW Hessen gegenüber dem Mittelhessenblog sei eine bewusste Falschinformation.
Jäger selbst hatte ein Urteil erstritten, mit dem die Obergrenze in Hessen auf 1000 Nanogramm begrenzt worden sei. Bei Werten die darüber lägen, müssten die betroffenen Schulräume sofort geschlossen werden – um dann mit der Sanierung zu beginnen. Jürgen Jäger ist der PCB-Fachmann der hessischen Lehrergewerkschaft GEW und steht inzwischen mit Herder-Schulleiter Gath und der Schulelternbeiratsvorsitzenden Tatjana Holz in Verbindung. Jäger unterstellte Eikmann, fachlich nicht auf der Höhe zu sein und Beschwichtigungspolitik zu betreiben.
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15000 Schulen in der alten Bundesrepublik PCB-belastet
Antworten, wenn auch eine eher nicht beruhigende, kommen dafür aus anderer Ecke. Vom Wiesbadener Biologen und Fachtoxikologen Dr. Hans-Ulrich Hill mit seinen Infoseiten unter dem Dach des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz. Dort schildert der für Selbsthilfegruppe Chemikaliengeschädigter den aktuellen Stand der Dinge in der PCB-Forschung aus einem anderen Blickwinkel. Danach, so Hill, sei die Belastung mit PCB auf direktem Weg über die Lunge stärker als über den Weg der Nahrungsaufnahme. Damit steht Hill im glatten Widerspruch zu Eikmann, der in Gießen sagte, die Belastung über die Luft spiele so gut wie keine Rolle. Hill spricht davon, dass auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland bei rund 15000 von 45000 Schulen, die in den 60er und 70er Jahren von einer PCB-Belastung der Raumluft ausgegangen werden könne. Und er spricht gleichzeitig davon, dass die Belastung des Körpers über die PCB-Aufnahme durch die Luft ungleich höher sei als über die Nahrung. Hill belegt diese Aussage mit einer Reihe von Literatur- und Studienhinweisen. Gleichzeitig spricht er davon, dass die öffentliche Hand, in dem Fall Bauverwaltungen und Gesundheitsämter, diese Belastungen nicht hätten wahrhaben wollen.
Hills Schilderungen werden, zumindest was den Umgang mit Innenraumbelastungen durch PCB und andere Gifte betrifft, auch vom Helmholtz-Zentrum in München gestützt. Dort, beim Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt wird in einer Veröffentlichung vom Fachinformationsdienst Lebenswissenschaften Umwelt und Gesundheit (FLUGS) am 9. Dezember 2003 dies geschrieben:
In den letzten Jahren ist die Bedeutung der Innenraumlufthygiene innerhalb der
umweltmedizinischen Praxis ständig gewachsen. Die meisten Menschen
verbringen den größten Teil des Tages in geschlossenen Räumen, so daß die
Qualität der Innenraumluft für das gesundheitliche Wohlbefinden von großer
Wichtigkeit ist. Unterschiedliche Beschwerden und Krankheitsbilder ( Sick
Building Syndrom ‑SBS, Gebäudekrankheit – BRI) können mit dem Aufenthalt in
Innenräumen zusammenhängen. Neben physikalischen, chemischen und
biologischen Faktoren wird das Befinden von Raummutzern auch von
psychologischen Faktoren beeinflußt.
„Wenn wir das alles früher gewusst hätten, dann hätten wir garantiert darauf gedrungen, dass die Schule viel eher saniert würde“, versicherte mehrfach Schulleiter Gath. Im Grunde, so Gath, sei es egal, über welche Grenzwerte man rede. „Wir wollen einfach einen sauberen, sicheren Ort für unsere Kinder“, sicherte sich Gath den lauten Applaus der Elternschaft. Gaths Position bekommt nun wiederum Unterstützung von wissenschaftlicher Seite. Dagmar v. Lojweski-Pasche vom Arbeitskreis „Schadstoffbelastungen in Schulen“ vom BBU weist auf den Kieler Wissenschaftler Dr. Hermann Kruse am Institut für Toxikologie und Pharmakologie der Christian-Albrechts-Universität hin. Dieser vertrete die Auffassung, dass im Grunde schon ein PCB-Molekül ausreiche, um Krebs auszulösen oder andere Erkrankungen in Gang zu setzen. Von daher seien die Grenzwertfestlegung nur eine Selbstberuhigung.
Zahlenspiele, was wieviel kostet oder welche Grenzwerte nun gelten oder nicht gelten, waren weniger die Fakten, die Eltern und Schüler zu interessieren schienen. Da ging es eher um Fragen wie: „Was wird aus unserem Abitur? Was passiert mit unseren Kindern? Können wir das PCB irgendwie wieder aus den Körpern bekommen? Bekommen unsere Kinder Krebs?“ Und besonders wichtig: „Entschuldigung“. Gerade dieses Wort oder überhaupt ein Zeichen des Bedauerns, dass irgendwer von den politisch und fachlich verantwortlichen dazu Stellung bezieht und sich nicht wegduckt, schien das Publikum zu erwarten. Zumindest von Schuldezernentin Eibelshäuser und Bauamtsleiter Klee. „Können Sie verstehen, wie es uns geht?“, packte Schulsprecher Manuel Klumpp die Stimmung der Schüler in Worte. Gerade zwei Tage vorher war Eibelshäuser zu einem Informationsveranstaltung für die Schüler in die Herderschule gekommen. Dieses, so berichtete eine Schülerin am Mittwoch habe auch eher Fragen nur offen gelassen, anstatt Antworten zu geben. Eibelshäuser warb um Verständnis, versicherte, die Stadt werde alles unternehmen, um diesen Zustand zu beseitigen. Man sei ebenso von der Situation überrascht worden wie die Schule selber und arbeite nun an Lösungen. Das Wort „Entschuldigung“ oder ein anderer Ausdruck des Bedauerns kam der Stadträtin allerdings auch am Mittwoch nicht über die Lippen.
Dafür schien Schulamtsleiter Bernhard Verständnis für die Schülersorgen zu haben: Er bot an, sich mit den Oberstufenschülern zu treffen, die sich jetzt im Abitursjahrgang befänden, um zu besprechen, wie mit dieser speziellen Lage umgegangen werden könne. Eine Schülerin hatte vorher wörtlich gesagt: „Ich bin einigermaßen verzweifelt. Nicht nur wegen der möglichen gesundheitlichen Folgen, sondern auch möglicher Nachteile beim Abitur. Wir haben ja das Zentralabitur und da interessiert es dann wohl keinen Menschen, ob wir gerade solche Probleme kurz vor dem Abitur haben.“ Die Schülerin befürchtet wegen der Lehrerpendelei zwischen Herderschule, die im Westen der Stadt liegt und den Oberstufen-Ausweichquartieren auf Zeit (bis zum 20. September) im Philosophikum I und II der Justus-Liebig-Universität Gießen und an der August-Herrmann-Francke-Schule im Osten der Stadt zuviel Unterricht zu verpassen. Die Lehrer würden sich bis zu 20 Minuten verspäten. Eibelshäuser sagte zu, dass ein Taxidienst eingerichtet werden solle, der die Lehrer zwischen der Herderschule und den Ausweichquartieren befördere. Dies sollte am heutigen Freitag geschehen.
KOMMENTAR
Hat keiner Bescheid gewusst? Wirklich nicht?
„Is halt so, muss man mit leben, machen wir das Beste draus, regt Euch net so auf“. Diese Stimmung drang in der Kongresshalle immer wieder durch.
Den Erfindern des PCB kann man sicherlich keinen Vorwurf machen, dass sie diese künstliche, in der Natur nicht vorkommende Stoffverbindung erfunden hatten. Das war 1928 der Fall. 40 Jahre später, 1968, sorgte allerdings ein Chemieunfall in Japan schlagartig für die Erkenntnis, dass man sich mit dem PCB nicht nur eine Wunderchemikalie mit hochwillkommenen Eigenschaften für die Elektrifizierung und mit der Zeit für die Produktion allermöglichen Alltagsgegenstände vom Toaster bis zum Kühlschrank und zum Lackanstrich geschaffen hatte, sondern auch ein hochwirksames Gift mit auf lange Sicht katastrophalen Folgen für den Menschen.
1978 schließlich verboten die USA die Herstellung und Anwendung von PCB.
In Deutschland hatte man sich erst 1989 zu einem Verbot durchringen können. Weltweit erst nach einer Konferenz von 127 Ländern in Bonn im Jahr 2003. Das ist nun gerade zehn Jahre her. Der Bau der Herderschule in Gießen fällt in die Jahre 1969/70. Also ein Jahr nach dem Unfall in Japan. Auf die Gefährlichkeit dieser anfangs so hochgelobten Substanz hatten 1973 auch zwei deutsche Wissenschaftler hingewiesen: Professor Friedhelm Korte und der damalige Diplomchemiker Werner Müller, heute Professor Werner Müller-Esterle, Präsident der Goethe-Uni in Frankfurt. Korte gilt als Begründer der Disziplin für Umweltchemie. Ihm wird ein maßgeblicher Einfluss auf die deutsche Chemiegesetzgebung zugeschrieben.
Dies alles zu wissen, ist keine Hexerei. Man muss sich nur auf die Suche machen, wenn man nicht ohnehin ein mit diesen Themen vertrauter Experte ist, der jeden Tag damit zu tun hat. Nur: In Gießen entstand der Eindruck, als seien auch die Experten quasi auf dem kalten Fuß erwischt worden: Hoppla, wir haben soviel PCB in der Bude – wie kommt denn das nur?
Herrschaftszeiten kann man da nur sagen: In den 60er Jahren werden die ersten Auffälligkeiten bekannt, Warnungen von Wissenschaftltern auf der Grundlage von Untersucnungen lassen nicht lange auf sich warten. Dennoch soll es bis 1978 dauern, bis das erste Verbot kommt. In Deutschland bis 1989 und schließlich bis 2001/2003. Das ganze hat was vom Zauberlehrling: Der rief auch die Geister, die am Ende selbst der Meister nicht mehr bannen konnte.
Nur hier scheinen wir es nicht mit reiner Dummheit oder Ignoranz zu tun zu haben, sondern schlichtweg damit: „Wie kommen wir am günstigsten weg? Was kostet nicht viel Geld?“ Wohlgemerkt: Die Endsechziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren nicht unbedingt von Armut in der alten Bundesrepublik geprägt. Und PCB war eben eine Wundersache: Flammte nicht. Leicht zu habender Brandschutz.
Als die Unglücksfälle und Untersuchungen der 60er Jahre bekannt wurden, hätten eigentlich Alarmglocken schrillen sollen: „Wir verwenden das Zueg nicht“.
Fand nicht statt. Und im Fall Herderschule eine Ewigkeit nicht. Nur, und diese Frage muss sich die Herderschule auch gefallen lassen, zumindest diejenigen mit dem nötigen Sachverstand: Wieso ist eigentlich niemand mit entsprechend chemischen und biologischem Sachverstand auf die Idee gekommen, von sich aus schon viel früher mal in der Schule die Belastung durch Schadstoffe messen zu lassen. Vielleicht wäre man dann schon in den 80ern schlauer gewesen.…
Weiterführende Linkliste
1) PCB-Verbot Bundesrepublik 1989,
2) PCB-Info Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz/ Dr. Hans-Ulrich Hill
3) Korte, Müller, 1973 , Polychlorierte Biphenyle, Nachfolger des DDT?
4) TV-Dokumentation Frühe Warnung- Späte Einsicht PCB ‑unvergängliches Gift.
5) FLUGS-Infoseite
6) PCB-Merkblatt,
7) Herderschule
8) Vortrag Professor Dr. Eikmann
Tanja meint
Das war ein schock damals, wir dachten Wunder was ist jetzt los… Aber zum glück entstand kein Personenschaden. Toller Artikel. Lg. Tanja