Gießen als Beispiel für Stadtparlamente in Holland, Schweden und Kanada: Es sind große Worte, die Dr. Tadios Tesfu an diesem 1. März 2013 in der mittelhessischen Universitätsstadt spricht. Tesfu ist Vorsitzender des deutschen Koordinationskomitees des Eritreischen Nationalrats für einen demokratischen Wandel. Des ENCDC. Tesfu ist in Gießen, um dem Stadtverordnetenvorsteher Egon Fritz eine Petition zu überreichen. Tesfu ist nicht allein gekommen: Mit ihm sind 150 andere Eritreer in der Stadt an der Lahn, um für die Freiheit in ihrer Heimat zu demonstrieren.
Am 28. Februar berichtete das Mittelhessenblog über die Hintergründe dieser Demonstration. Hintergrund sind eritreische Kulturveranstaltungen in den Hessenhallen, die von der Messe Gießen betrieben werden. Diese Kulturveranstaltungen seien in Wahrheit Propagandaveranstaltungen der eritreischen Regierung, um für sich zu werben.Es war nicht die erste. 2011 und 2012 hatte es schon einmal Proteste gegen die Regierung in dem ostafrikanischen Land gegeben, zum Teil begleitet von schweren Zusammenstößen mit regimetreuen Anhängern. Nachrichten, die man eher im ruhigen Deutschland aus den Ländern des arabischen Frühlings kennt.
Doch der 1. März 2013 war anders. Friedlich. Aber laut und wütend. Mit skandierenden Stimmen zogen die Demonstranten durch die Gießener Innenstadt. Am Ende die Überreichung der Unterschriften zu einer Onlinepetition mit 2300 Unterschriften aus aller Welt, wie Tesfu sagen wird. Für Fritz und die beiden grünen Stadtverordneten Ewa Wenig und Dr. Bettina Speiser gibt es stellvertretend im Voraus Geschenke: Für jeden ein T‑Shirt mit dem Aufdruck: „Danke Stadtverordnetenversammlung In Gießen gibt es keinen Platz für Diktatoren und deren Gefolgschaft“. Mit der Unterschriftensammlung wolle der ENCDC gemeinsam mit den Regimekritikern die Gießener Positionen unterstützen. „Gießen ist eine Stadt der Wissenschaft, der Freiheit“, sagt Tesfu. In einer Erklärung hatte der Magistrat die Positionen noch einmal klar unterstrichen. Die wichtigste Aussage: In Gießen, einer Stadt, in der Menschen aus über 150 Nationen leben, sei kein Platz für Diktaturen und ihre Anhänger.
Im Folgenden bringen wir den Originalwortlaut der Erklärung des Gießener Magistrats.
Zu den Diskussionen innerhalb der eritreischen Gemeinde in Gießen über die Verhältnisse in Eritrea erklärt der Magistrat der Universitätsstadt Gießen:
- Die Auseinandersetzungen um die Veranstaltung des Eritrea-Festivals seit Sommer 2011 und zuletzt auch um die Veranstaltung der Eritreischen Frauen Union vor einigen Tagen haben deutlich gemacht, dass es innerhalb der eritreischen Gemeinden in Deutschland und auch innerhalb der eritreischen Gemeinde in Gießen sowie zwischen diesen Gruppierungen einerseits und Menschenrechtsorganisationen andererseits tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Beurteilung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Eritrea, insbesondere in Hinblick auf die Beurteilung der Menschenrechtssituation in Eritrea gibt. Der Magistrat fordert alle an der Diskussion beteiligten Gruppen auf, die notwendige Debatte darüber mit friedlichen Mitteln nach den Regeln der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu führen. Alle nationalen, ethnischen, kulturellen und politischen Gruppierungen – gleich woher sie kommen und welche Standpunkte sie vertreten – tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass das friedliche Zusammenleben von Menschen aus mehr als 140 Nationen in Gießen weiter erhalten bleibt. Unterschiedliche Auffassungen über den Charakter anderer gesellschaftlicher und politischer Systeme dürfen nicht zum Sprengsatz für das friedliche Zusammenleben werden.
- Die Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte ist oberstes Ziel jeder Politik. Die Menschenrechte gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, gemäß der UN-Kinderrechtskonvention und anderer allgemein verbindlicher Menschenrechtsabkommen der internationalen Staatengemeinschaft sind universal gültig und unteilbar. Zur Wahrung dieser Menschenrechte sind alle staatlichen Ebenen im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten aufgerufen.
- Das betrifft auch auf spezifische Weise die Kommunalpolitik. Kommunalpolitik kann aber nur einen äußerst beschränkten Beitrag zur Lösung internationaler oder innerstaatlicher Konflikte leisten. Kommunalpolitik ist keine Ersatz-Außenpolitik. Nichtsdestoweniger wirken sich internationale und innerstaatliche Konflikte auch in den Kommunen aus. Das ist in Gießen schon immer so gewesen, weil Gießen schon immer Menschen aufgenommen hat, die vor den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern fliehen mussten, darunter auch viele Menschen, die vor den unterschiedlichen Regimen Eritreas fliehen mussten. Insofern wirken die innerstaatlichen Verhältnisse in solchen Ländern, gerade eben auch in Eritrea, auch auf die Stadtgesellschaft ein und lösen hier Debatten aus. Insofern ist es dann auch die Aufgabe der Kommunalpolitik und der kommunalpolitischen Organe, klar Position zu beziehen, aber gleichzeitig auch – im Rahmen seiner Zuständigkeit und Verantwortung – dafür zu sorgen, dass notwendige Debatten bzw. unvermeidliche Meinungsverschiedenheiten ausschließlich mit friedlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln geführt bzw. ausgetragen werden.
- Der Magistrat lässt vor diesem Hintergrund keinen Zweifel daran, dass er die Verhältnisse in Eritrea und die zahllosen Hinweise auf gravierende Verletzungen der Menschenrechte mit äußerster Sorge betrachtet und dass er die Menschenrechte in Eritrea als nicht garantiert betrachtet. Er unterstützt den demokratischen Protest gegen diese Verhältnisse und erklärt seine Solidarität mit all denen, die in Eritrea Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind und werden. Der Magistrat wird deshalb gemäß dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung auch weiterhin alle Möglichkeiten prüfen, wie Propaganda-Veranstaltungen der eritreischen Regierung verhindert werden können. Dies muss freilich im Lichte der begrenzten Zuständigkeiten und Möglichkeiten und unter Wahrung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschehen Darüber hinaus wird der Magistrat mit den unterschiedlichen Gruppen der eritreischen Gemeinde sowie Menschenrechtsorganisationen im Gespräch bleiben und den Dialog zwischen den unterschiedlichen Positionen moderieren.
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