Ist es das letzte Aufgebot, der verzweifelte Versuch, die Existenz als Milchviehhalter zu retten? Den Eindruck könnte man bekommen. Zumindest beim Blick auf die Resonanz in Mittelhessen, geht es um das Echo auf die Teilnahme am Protestzug deutscher Milchviehbauern nach Brüssel. Dort wollen am Montag und am Dienstag Milchviehbauern aus ganz Europa protestieren, wenn die EU-Parlamentarier dort tagen. Den Bauern geht es um mehr Mitbestimmung. Sie wollen kein „Restgeldempfänger“ sein, wenn die Molkereien ihre Preise festsetzen. Zur Teilnahme der deutschen Milchviehhalter hatte der Bund der deutschen Milchviehhalter (BDM) aufgerufen. Die Teilnahme aus dem mittelhessischen Kernland ist eher dünn.
Aktualisierte Fassung (Inzwischen gibt es Reaktionen aus dem Internet. Diese haben wir am Ende des Artikels eingearbeitet)
Am Freitag begann dieser Marsch auf Brüssel , vorwiegend im 30- oder 40-Stundenkilometer-Tempo, mit Schleppern, unterstützt von Bussen und Pickups. Am Sonnabend kam ein Konvoi von rund 40 Schleppern mit rund einstündiger Verspätung bei den Hessenhallen an. Sie waren in Osthessen bei Oswald Engel aufgebrochen (worüber die Kollegen von Osthessen-News berichtet haben) , nahmen bei Grünberg den hessischen BDM-Vorsitzenden Stefan Mann zusammen mit einigen anderen Bauern aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf in Empfang. Am Sonnabend waren mittelhessische Gesichter, insbesondere aus dem Landkreis Gießen, eine Rarität. „Vielleicht liegt es ja daran, dass die meisten einfach schon resigniert haben und kein Sinn mehr darin sehen“, vermutet Simone Stroh. Die Einschätzung der Landwirtin bestätigte die regionale mittelhessische BDM-Sprecherin Nadine Reichel am Sonntag. Denn aus Nordhessen waren am Sonntag weitere Bauern nach Oberbiel gekommen, um dort mit mittelhessischen Milchbauern weiter nach Brüssel zu fahren. Aus dem Landkreis Gießen sollte es dann mit Simones Sohn Michel am Ende nur einen Teilnehmer geben. Aus dem Lahn-Dill-Kreis seien drei Kollegen mitgefahren.
Die Landwirtsfrau aus dem Wettenberger Ortsteil Wissmar war mit ihrem Sohn Michel gekommen, um die protestierenden Kollegen zumindest moralisch zu unterstützen. „Uns geht es ja nach der Umstellung auf die Biolandwirtschaft noch besser. Wir bekommen derzeit 41 Cent Erzeugerpreis je Liter“ sagt Simone Stroh. Zusammen mit ihrem Mann Andreas hatte sie sich für due Umstellung erst vor kurzer Zeit entschieden.
Damit liegt der Wettenberger Milchviehbetrieb einen Cent über dem, was die Milchbauern schon lange als Erzeugerpreis fordern. Die Realität sieht allerdings anders aus: Von aktuell 26, 5 Cent je Liter, die es von der Schwälbchen-Molkerei im Oktober gab, berichtet Dieter Müller. Er ist wie Stefan Mann aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf, gehört zum hessischen Landesvorstand. Die Hochwald-Molkerei zahle derzeit 27 Cent je Liter, erklärt der Landwirt.
„Nur noch für die Bank arbeiten“
Der Landwirt macht die Rechnung auf: „Ich habe mir mal alte Buchhaltungsformulare angesehen. Von 1998 und 1999. Wir müssen diese Unterlagen ja mindestens zehn Jahre aufheben. Also aus der Zeit vor dem Euro. Das war es tatsächlich noch so, dass ich für einen Liter Milch sieben Liter Diesel bekommen habe. Und heute?“ Müller spricht von fünf Litern und einem Liter. Nur eben umgekehrt: Für fünf Liter Milch gibt es einen Liter Diesel. „Das haut rein. Genauso wie die Stromkosten reinhauen. Bei jedem von uns“, meint der Landwirt. Müllers Worte sind keine Phantasie: Im Zuge von länger laufenden Recherchen zum Thema meinte ein mittelhessischer Landwirt gegenüber dem MHB: „Ich bin eigentlich froh, dass ich die Rinder nicht mehr habe. Sonst hätten wir nur noch für die Bank gearbeitet ‑wie so viele andere Kollegen das inzwischen tun“. Der Mann will unbekannt bleiben. Seine Aussagen werden indes von Müller gestützt. Bei einer Erhebung unter den Berufskollegen im Landkreis Marburg-Biedenkopf, wer denn noch bereit sei, den elterlichen Milchviehbetrieb weiterzuführen, sieht es mau aus.
Immer weniger (Milch-)Bauern in Mittelhessen
„Vor einigen Jahren waren wir noch 358 Kollegen in unserem Landkreis“, erklärt Müller. 2011 seien es noch 205 gewesen und jetzt, im vorletzten Monat des Jahres 2012, sind es gerade noch 180 Bauern. Ein Rückgang innerhalb weniger Jahre um rund 50 Prozent. Und da die Hofnachfolge ein Thema ist, wurde gleich noch eine Frage nachgeschoben: Wer denn bereit sei, den elterlichen Betrieb weiterzuführen? dazu seien alle unter 30 jahre alten potentielle Hoferben befragt worden: Das Ergebnis ist aus Sicht Müllers ernüchternd: Gerade mal 20 seien es, die bereit seien, weiter als Landwirt auf dem eigenen Hof zu arbeiten, 20 von heute180. Die konkreten Zahlen aus anderen Landkreisen in Mittelhessen kann der BDM-Mann nicht nennen. Sein Vorstandskollege, Stefan Mann sagt im Videointerview mit dem Mittelhessenblog: „Alle eingerechnet, vom Nebenerwerbler bis zum Vollerwerbler, hat es derzeit vielleicht weniger als 1000 Milchviehbetriebe.“ Wenn diese auch noch weniger würde, würde das auch die daranhängenden anderen Wirtschaftszweige ebenfalls treffen: Den lokalen Schreiner, Schlossereien, Elektrohandwerk. Von den direkt abnehmenden Betrieben wie Fleischereien oder Bäckereien ganz zu schweigen. Wie Müller sagt, seien unter den 20 einige, die aus Überzeugung weitermachen würden, bei anderen stelle sich die Frage der Änderung der Betriebsausrichtung gar nicht erst. „Da stehen Millioneninvestitionen im Raum, die müssen erst einmal abgearbeitet werden. Wenn es ganz hart auf hart kommt, müsste man sagen, da wird erst einmal nicht für den Hof gearbeitet, sondern für die Bank“. Und bei der derzeitigen Preisgestaltung, die den Bauern von den Molkereien aufs Auge gedrückt werde, bliebe kaum ein Spielraum, aus dieser Nummer wieder herauszukommen.
„Getreidebauern haben weniger Arbeit für gleichen Ertrag“
Landwirt Müller macht noch eine weitere Rechnung auf. Die hat mit Betriebskosten und Arbeitszeiten zu tun. Beim Vergleich zwischen reinen Getreidebauern und denen, die ihre Milchviehhaltung nicht dran geben wollen, schnitten die reinen Getreidebauern derzeit besser ab. „Nehmen wir die reine Arbeitszeit. Also die Zeit, die ich verbringe, um den Acker vorzubereiten, gegebenfalls zwischendrin einzugreifen und am Ende zu ernten. Beim Milchbauern kommt noch die Zeit dazu, die er braucht, sich um die Tiere zu kümmern.“ Beim Getreidebauern läge dieser Aufwand bei 5 Stunden je Hektar (Anmerkung: Ein Hektar sind 10000 Quadratmeter, ungefähr die Größe eines offiziellen Fußballplatzes). Übers Jahr verteilt. Hinzu käme, dass der Getreidebauer seine Zeit in der Regel freier gestalten könne. Sieht man einmal von Vorgaben der Witterung ab. Beim Milchviehbauern sei der Wert zehn Mal so hoch. „Da kommen dann schon 50 Stunden zusammen“, und der Druck, an 365 Tagen im Jahr, morgens wie abends sich um die gleiche Sache zu kümmern: Das Melken. Wie Müller sagt, hole der Getreidebauer von seinem Acker je Hektar rund acht Tonnen Weizen. Das entspreche ungefähr den 8000 Litern Jahresleistung, die eine Kuh dem Bauern bringe. Für den gleichen Ertrag habe der Getreidebauer also weniger Aufwand.
Solche Zahlen schwingen im Hintergrund mit, beim Treckerzug der Milchbauern gen Brüssel. Dort, so erläutert Stefan Mann, wollen die Bauern dafür kämpfen, dass Milchmarkt in Europa flexibler gestaltet wird. Die Tatsache, dass es gerade eine kleine Erholung gäbe, könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Milchbauern bald wieder beuteln könnte, sagte Mann in Gießen und sagt, dass die Bauern jetzt, wenn die Agrarpolitik für die Zeit nach 2015 neu ausgerichtet werde, sie als Erzeuger eine deutlich bessere Mitsprache haben wollen (Den Wortlaut der dazugehörenden BDM-Mitteilung gibt auf der Mittelhessenblog-Seite „Zugesandte Pressemitteilungen“ unter der Überschrift:„Pressemitteilung Bund Deutscher Milchviehhalter /LV Hessen 23. November 2012“ ).
Sein Vorstandskollege Dieter Müller hatte mit Blick auf die vorgestellten Zahlenbeispiele allerdings noch etwas anderes gesagt. Etwas, das vermutlich Wasser auf die Mühlen derjenigen sein könnte, die gegen Milch generell zu Felde ziehen: „Wenn sich die Lage nicht ändert, wäre das in der Tat eine Überlegung, stärker oder ausschließlich in den Getreidebau zu gehen“, so der Landwirt. Gegen Milch generell war vor allem in den zurückliegenden Jahren ein Kampf um deren Gesundheit entbrannt. Einer der Antimilch-Wortführer ist das „Zentrum für Gesundheit“. Die Seite, die 2011 von der Schweizer Unternehmensberatung Neosmart Consulting AG übernommen wurde, macht deutlich Werbung für Ersatzprodukte zur Milch, desgleichen zu Weizen. Insofern stellt sich die Frage, wie seriös Informationen zu bewerten sind, die zum einen offensichtlich einer aggresiven Marketingmethode geschuldet sind und andererseits, was die Autorenschaft betrifft, sich anders als die auserkorenen Gegner bei der Milchwirtschaft, anonym veröffentlicht werden. Kritik an dieser Anonymität weichen die Autoren des Zentrums für Gesundheit aus (siehe Kommentare unter „Wer wir sind“)..
Internetreaktionen (Facebook und Twitter)
Ob die Bauern nach Brüssel mit verbilligten Agrardiesel unterwegs seien. Das möchte der Twitter-User Schorsch Meier wissen. Diese Frage beantwortete der überregionale BDM-Sprecher Hans Foldenauer so: „Der BDM erstattet jedem Bauern, der mitfährt, die Fahrtkosten gegen Quittung.“ Getankt werde an ganz nornalen Tankstellen.
Über Facebook gab es begleitend mehrere Reaktionen. Begleitend zum Hauptartikel stellte das Mittelhessenblog seinen Lesern die Frage, wieviel sie für frische Hofmilch ausgeben würden, je Liter. Wir wollen wissen, ob 40, 50, 60 oder 70 Zent. Bisher kam eine Antwort für 50 Zent. Auf dem persönlichen Profil des MHB-Herausgebers kamen Beschwerden über Bierdosen trinkende und diese anschließend wegwerfende Protestzugteilnehmer auf ihrem Weg durch Belgien. Woher diese stammen, wurde allerdings nicht gesagt.
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