Man kennt das aus schlechten Witzheftchen: Behinderter Bettler sitzt in der Fußgängerzone. Die Leute geben etwas und nach getaner „Arbeit“ schleicht sich der Bettler ums Eck und fährt mit dem Edelbenz davon. Aber wie sieht es wirklich mit der Hilfsbereitschaft aus? Gibt es einen Blick für Armut? Und gibt es einen, wenn noch eine Behinderung sichtbar wird? Der Bieberer Michel Schmidt hatte sich zu einem Selbstversuch nach Gießens Einkaufsmeile und Fußgängerzone, in den Seltersweg aufgemacht. Das Mittelhessenblog hat ihn begleitet.
Treffpunkt 15:15 Uhr an der Bushaltestelle Mühlstraße war ausgemacht. Diese Zeit einzuhalten war nicht besonders schwer. Alles andere wurde dann aber eher zum Parcour, der einem Fußgänger schon Geduld abverlangt. Für jemanden im Rollstuhl noch mehr. „Ich warte hier schon seit einer Viertelstunde. Und wenn die Ampel dann auf grün umschlägt, hat man gerade mal knapp ne Minute um auf die andere Seite zu kommen“, begrüßt mich Michel Schmidt. Ich habe es gerade nach längerer Warterei über die Ampel beim Parkhaus Schanzenstraße geschafft. Um Michel Schmidt abzuholen. Der dort in seinem Elektro-Rollstuhl wartet. Schmidt hatte sich entschieden, direkt an der Fußgängerampel an der Westanlage gegenüber dem Parkhaus zu warten. Später wird er mir verraten, dass er diesen nur ein, zwei Mal im Jahr verwendet und deswegen etwas ungeübt sei. Sonst sei er mit seinem anderen Rollstuhl unterwegs, für den er immer jemanden braucht, der ihn schiebt.
Wir machen uns auf den Weg Richtung Seltersweg. Zurück über die Westanlage und durh die Mühlstraße. An einer engen Stelle lässt ein junger Mann uns den Vortritt, wenig später bedankt sich ein Autofahrer in der schmalen Mühlstraße, als wir ihm Platz machen. Der Bürgersteig ist zu eng wegen parkender Autos, als das Schmidt dort entlang fahren könnte. So lange war der Autofahrer geduldig hinter Schmidt hergefahren. Die nächste Hürde stellt sich in den Weg: Ein Geschäft hat seinen Werbeständer vor dem Eingang mitten auf den Bürgersteig gestellt. Ich stelle das Schild kurzerhand beiseite, damit Schmidt mit seinem Rollstuhl passieren kann.
Standortsuche: Wo am besten aufstellen, um wahrgenommen zu werden? Und womit? Schmidt wollte erst eine Büchse mitnehmen. Um die Aktion irgendwie sichtbar zu machen. Das es ja aber nicht um Geldsammelei gehen sollte, sondern darum, Hilfsbereitschaft zu testen, verwarf er diese Idee wieder. Also ohne Dose, ohne Transparent, kein Schild, kein Kunststückchen vorführender Pudelmix oder dergleichen. Einfach nur der Mann selbst und sein Rollstuhl. Mehr nicht..
An diesem Freitagnachmittag pulsiert das Leben im Seltersweg. Buden werden aufgebaut. Kabelstränge verlaufen quer über das Pflaster. Es sind die Vorbereitungen für den Krämermarkt, der noch bis zum 7. Oktober dauern wird. Mittendrin im Seltersweg, dort wo Löwengasse und Goethestraße einmünden, stehen die Leute von der Initiative gegen die Veränderung des Schwanenteichs im Zuge des Landesgartenschau, informieren Menschen. Etwas weiter ein Pantomine in Silberkostüm. Am Eingangsbereich von Peek und Cloppenburg hat sich ein Mann hingekauert, die Gunst des Publikums mit eben jenem Pudelmix, der brav seine Männchen macht, die Cents klingeln in der bereit gestellten Büchse.
„Vor ein paar Tagen war ich auch hier“, berichtet Schmidt. Ihm sei ein junger Mann aufgefallen, der ebenfalls das Publikum um Almosen bat, in abgewetzten Klamotten Er traue ihm nicht, weil irgendetwas nich ins Gesamtbild passe. An diesem Freitag begegnet uns der junge Mann wieder. Keineswegs abgerissen gekleidet, in der Hand eine höherwertige Gitarre. Er sieht Schmidt, erkennt ihn wieder, grüßt ihn flüchtig. „Bin gespannt, ob wir ihn nachher wiedertreffen. Dann würde ich ihn ja gerne mal fragen, was ihn auf die Straße treibt“, meint Schmidt.
Ziwschenzeitlich ist der erste Standort gefunden. Schmidt postiert sich etwas oberhalb des Mannes mit dem Pudel. Mehr in Richtung Karstadt und Selterstor. Ich lasse ihn allein. Postiere mich auf der anderen Seite der Fußgängerzone. Es dauert nicht lange, eine ältere Frau kommt, spricht Schmidt direkt an. Die Aktion scheint gut zu beginnen. Zumindest mit diesem Teil. Es ist inzwischen 16 Uhr. Der Seltersweg hat sich noch mehr gefüllt. Menschen quellen aus den Geschäften. Stehen an Tischen der diversen Kaffeeröstereien. Oder sitzen an den Tischen der diversen Schnellrestaurants und Bistros im Seltersweg. Die Mienen der Leute, wenn sie nicht gerade sich unterhaltend im normalen Schrittempo vorbeilaufen, sind eher gleichgültig, teilweise etwas gehetzt – unterwegs, eben noch schnell etwas einkaufen, keine Zeit für irgendwas. Ich kenne diese Gesichter aus früheren Aktionen, wenn Umfragen im Seltersweg zu Themen gemacht wurden. Passantenbefragung. Viele immer eilig. Auf dem Sprung. Ob Schmidts Rechnung aufgeht und sich irgendwer Gedanken über den jungen Mann macht, der etwas verloren dort in seinem Rollstuhl am Rand der Fußgängerzone steht? Ihn anspricht. Was mit ihm los sei, ob man irgendwie helfen könne. Ein paar Meter weiter führt der Pudelmix seine Kunststückchen auf, bei seinem Besitzer klimpert hin und wieder ein Cent in die Mütze. Mehr nicht. Aber immer noch mehr als beim Rollstuhlfahrer, der einfach nur mit einem fragenden Gesichtsausdruck in die Gesichter der Passanten blickt. Die Zeit verstreicht. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Der Mann mit dem Pudel ist inzwischen dabei, seine Siebensachen zusammenzuräumen.
Bei Schmidt haben nur ein paar Kinder halt gemacht. Mehr oder minder jedenfalls. In Schlepptau von Erwachsenen, an deren Hand. Sie sehen den Mann im Rollstuhl neugierig an, Zeit zum Stehenbleiben ist. Ihr Mütter, Väter oder älteren Geschwister, die sie begleiten, haben es eilig, keinen Blick mal eben zur Seite, um den Rollstuhlfahrer zu fragen. Ein junger Mann kommt noch. Eine frühere Bekanntschaft aus der Lebenshilfe, wie sich später herausstellt. Er findet Schmidts Aktion gut ‑passt aber nun mal eben auch nicht ins Raster des normalen Passanten, auf den Schmidt immer noch zu hoffen trifft.
Wir brechen die Aktion an dem Standort ab, beratschlagen, was vielleicht ein Ort sei, der mehr Aufmerksamkeit versprechen könnte. In der Nähe der drei Schwätzer soll es sein. Insofern ideal. Schmidt kann sich postieren. Ich kann mich auf einer der Bänke setzen, mir Notizen machen und gleichzeitig die Szenerie im Auge behalten. Dass Schmidt und ich irgendwie ein Team, bekommt keiner mit. So soll es sein. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit zwei Kindern im beginnenden Grundschulalter. Sie schlecken ein Eis, sehen zu Schmidt rüber. Aufmerksam. Ihre Mutter hat keinen Blick für Schmidt übrig. Die Aufmerksamkeit zieht schnell ein anderer Mann auf sich. Der auch will, dass die Leute ihm zuhören. Er ist scheinbar als Missionar unterwegs. Erzählt, dass wir durch Jesus den Tod überwinden. Er zieht alle Register. Ist sich nicht zu schade, sich in den Augen vieler Passanten, zum „Affen“ zu machen – riskiert sogar, von einigen jungen Männern mit Migrationshintergrund umkreist und mit spöttischen Bemerkungen bedacht zu werden. Der Mann lässt sich nicht erschüttern. Am Ende nimmt einer der jungen Männer eines der Heftchen mit, die der Jesusverkünder jedem entgegenhält. Für Schmidt dagegen gibt es keinen Blick, kein Wort. Nichts.
Bilanz nach einer Stunde: Bis auf zwei erwachsene Menschen haben sich nur Kinder für den jungen Mann im Rollstuhl interessiert. Und die zwei Erwachsenen zählen nicht, da sie Schmidt ohnehin kennen.
„Das ist ernüchternd. Ich weiß aber immerhin nun , wie es Menschen gehen muss, die tatsächlich auf Hilfe angewiesen sind ‑entweder weil sie behindert sind oder arm oder weil beides zusammentrifft. Es ist wirklich so, als ob die meisten einfach nicht wissen, wie sie reagieren sollen.“ Er vermute, dass es daran liegt, dass viele den Almosen erheischenden Menschen, die sich in den Fußgängerzonen platzieren, einfach nicht trauen,einem im Rollstuhl anscheinend erst recht nicht.
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