The King himself was in Town und lieferte gleich einen neuen Berufsvorschlag ab: „Der Informationsprokurist“. Der König, von dem die Rede ist, sitzt in Berlin, ist nicht wie der alte Fritz 300 Jahre alt, trägt aber auch eine Krone: Einen roten Irokesenkamm: Sascha Lobo. Die „Town“ von der die Rede ist, heißt Gießen.
Eingeladen hatte ihn das EC‑M aus Gießen, dessen Leiter Edgar Reinhardt ist. Lobos Auftritt während der „SocialMedia@Skybar“ im Gießener Dachcafe war ein angekündigter Paukenschlag. Dass der Gastgeber, die EC‑M ab heute gerechnet, in zwölf Tagen, ihre Türen schließt, ein Überraschungspaukenschlag mit Knalleffekt, von Edgar Reinhardt. Genauso überraschend aber auch, dass es auf den Seiten des Bundeswirtschaftsministerium, dass diese Initiative gefördert hat, nur eine lapidare Mitteilung über das Ende gibt. Bisher. Dass Lobo nicht nur in der Internetszene als Social-Media-Papst schlechthin gilt, ist unbestritten. Ob Gießen aber seinen Titel als „die E‑Town“ Deutschlands verdient hat: Schaun mer mal. Wetzlar auf jeden Fall hat mächtig „abgerockt“. Jedenfalls, was den Social-Media-Hessentag 2012 angeht. Der Reihe nach:
Überraschend angekündigtes Ende einer Institution
Mittelhessen wissen, was das EC‑M ist, den anderen Mittelhessenbloglesern seis erklärt: Hinter der Abkürzung steckt das Beratungszentrum für den Elektronischen Geschäftsverkehr in Mittelhessen. Zielgruppe: Kleine und mittelständische Unternehmen, Freiberufler, selbständige Handwerker – kurz, irgendwie alle, die sich zwangsläufig, weil Geschäft und Beruf es forderten, mit Bits und Bytes herumschlagen müssen, aber entweder keine Zeit oder kein Geld hatten oder haben, sich eine eigene EDV/Social-Mediaabteilung zu halten oder extern zu beauftragen. Letzten Endes also eine sinnvolle Einrichtung, um EDV- und Internetskeptikern den Sinn und Zweck dieser Technik näherzubringen. Denn was heute beinah selbstverständlich ist, war 1998 eher noch für viele so wie ein Ausflug auf die dunkle Seite des Monds. Damals wurde eine Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums eingerichtet, um eben das zu ändern. Das Netzwerk Elektronischer Geschäftsverkehr (NEG). Als Teil dieses Netzwerks entstand das EC‑M in Gießen, wobei M für Mittelhessen steht. Und dieses Netzwerk leitete Edgar Reinhardt seit dem 1. Januar 2001.
Wie Reinhardt an diesem Abend sagte, sei die kostenlose Beratung offensichtlich der EU ein Dorn im Auge. Jedenfalls dürften Beratungsdienstleistungen, wie sie das EC‑M im Sinne der Förderinitiative des Bundeswirtschaftsministeriums, leiste, so nicht mehr stattfinden. Sondern sie müssten dann jedem Unternehmen angeboten werden. Also auch denen, die sich einen eigenen Stab oder externe hochpreisige Berater ohne Schwierigkeit leisten könnten. So habe er inzwischen Anrufe von Mitarbeitern eben jener Unternehmen bekommen, die sich beraten lassen wollten. Etwa von AWD-Mitarbeitern. Nur eben dies sei gegen die geltenden Bestimmungen. Denn beim NEG heißt es deutlich: Kostenlose und neutrale Beratung. Wie Reinhardt nun sagte, laufe die 1998 begonnene Initiative aus, ohne dass es eine Fortsetzung in diesem Sinne gebe. Was nach dem EC‑M komme, wisse er nicht. Jedenfalls würde dieses nun zum 30. September seine Türen schließen. Auf der Seite des Bundeswirtschaftsministeriums wird zum Ende der Initiative nur lapidar mitgeteilt, diese laufe im Herbst aus. Keine Erklärung.
Auch auf der Seite des NEG ebenfalls Fehlanzeige. Die Archive der Pressestelle des BMWi schweigen sich dazu ebenfalls aus. Zumindest ist dies bisher der Stand zum Zeitpunkt der Recherche (18. September 2012, 12:15 Uhr).
Beim Bundeswirtschaftsministerium liegt dazu inzwischen eine Anfrage der Mittelhessenblog-Redaktion vor.
In Gießen jedenfalls zeigten Geschäftsführer Hendrik Adam von der Agentur „Die Interaktiven“ und sein Social-Media-Manager Nemo Tronnier, welche Rolle Facebook einerseits für die Werbekampagne und Fanbetreuung für den Hessentag 2012 in Wetzlar bedeutete, andererseits wie die HSG Wetzlar via Facebook ihr Fanmanagement betreibt. Und warum überhaupt Facebook und nicht Twitter, WKW (Wer kennt wen), eine der vielen VZ-Gruppen oder Xing. „Facebook ist einfach ideal“, so die beiden Interaktiven. Tronnier erklärte, dass in Sachen Social Media der „Hype“ der ersten Jahre vorbei sei und sich das Feld zu professionalisieren beginne.
„Der gute Social Media Manager macht sich überflüssig“
Tronnier legte dann mit einer Bemerkung nach, die dem gerade erst entstehenden Berufsbild des Social-Media-Managers, also seinem eigenen, den virtuellen Genickschuss verpasste: „Ein guter Social-Media-Manager arbeitet eigentlich auf seine eigene Überflüssigkeit hin“. Die Social-Media-Aktivitäten könnten dann etwa von den Mitarbeitern der Marketingabteilung übernommen werden, nach einer gewissen Zeit des Trainings.
Tronnier zeigte noch etwas anderes: Bei Facebook komme es nicht unbedingt darauf, wie gut ein Verein wirklich sei – sondern darauf, wie gut er bei Facebook sei. Das beste beispiel sei hierfür der FC Barcelona. Was der Wetzlarer Interaktiv-Mann sagt, belegt der Fußballclub mit einer Meldung vom 18. September, 15.42 Uhr : The Club is present on Facebook, Twitter, Google+, Youtube and Tencent Weibo, making a total of 51.6 million fans around the world. Auf Deutsch: Der Club hat gegenwärtig auf Facebook, Twitter, Google+, Youtube und bei Tencent Weibo 51.6 Millionen Fans (Zur Orginalmeldung).
Soweit hat es die HSG Wetzlar nun noch nicht gebracht: Diese haben gegenwärtig 2898 Gefällt-mir-Klicks und 463 „sprechen“ über die HSG. Das heißt, sie wird irgendwo in Facebook weitergereicht. „Wer seine Kunden oder Fans erreichen will, der muss in den Social Media, speziell in Facebook, einfach emotionaler sein“, sagt Tronnier und verweist auf Bilder und Videos von jubelnden Fans. Kindern, die von den Spielern beschenkt werden, oder, oder, oder.
Kinder, Datenschutz, „Solomo“ und Onlinestudien
A propos Kinder: Was ist eigentlich mit den Schutz-und Persönlichkeitsrechten? Im Dachcafe verwies Tronnier auf die vielen Eltern, die die Bilder ihrer Kinder gleich albumweise in Facebook einstellen. Sorgen wegen Datenschutz? Keineswegs. Im Gegenteil. Geschäftsführer Adam setzte auf Tronniers Darstellungen mit seinen Berichten vom Social-Media-Marketing für den Hessentag 2012 in Wetzlar noch das Sahnehäubchen auf: Unter anderem mit den Zahlen die den Trend zu „Solomo“ untermauern, wie er sagt. Für den Hessentag hatte die Agentur eine App entwickelt, um damit die Besuchermassen durch das Hessentagsgelände zu lotsen und gleichzeitig einen Infodienst über die Veranstaltungen anzubieten. Die App sei mehr als 10000 mal heruntergeladen worden. Adam hatte vorher auf die zunehmende Bedeutung des „On“-Seins hingewiesen: Heute seien 73 Prozent der Deutschen online, 50 Prozent von ihnen in sozialen Netzwerken unterwegs. Und bei den jüngeren würden die meisten ihre Online-Zeit in sozialen Netzwerken verbringen. Adam beruft sich dabei auf Zahlen der Onlinestudie von ARD und ZDF sowie des Nonliner-Atlas der Initiative D21. Der Nonliner-Atlas spricht aktuell von 75 Prozent der Deutschen, die online sind.
Giessen – führende E‑Town in Deutschland ‑tatsächlich?
So sehr Adam und Tronnier die Vorteile „der größten Einzelwebseite der Welt“ hervorhoben, so sehr war Roland Böhme von der Online-Marketing-Agentur e‑Wolff aus Heimsheim darum bemüht, Google ins rechte Licht zu rücken und die damit verbundenen Dienste wie Google+ vorzustellen. Böhme, der laut Impressum der Datenschutzbeauftragte des von seinem Sohn geführten Unternehmens ist, spielte ein wenig mit seinen weißen Haaren und der Tatsache, dass er sich in diesem Alter noch Dingen wie Social Media befasse. Dass er damit im Trend liegt, dafür sprechen unter anderem die Onlinestudien. Warum allerdings Gießen nun die führende E‑Town sein soll oder warum nur Unternehmen bei diesem Index berücksichtigt wurden und nicht die Teile der Bevölkerung, die nach den Erkenntnissen der beiden Onlinestudien ebenfalls stark im Internet unterwegs sind, diese Frage stand zwar im Raum, blieb aber unbeantwortet.
Gießen bundesweit die Stadt mit höchster Studentendichte
Das ist allein schon deswegen bemerkenswert, als das Gießener Magistratsmitglied Burkhard Schirmer während der Begrüßung der Gäste noch darauf hingewiesen hatte, dass Gießen mit 33000 Studenten im Verhältnis zu 80000 Einwohnern inzwischen bundesweit die Stadt mit der höchsten Studentendichte ist. Und damit letztlich von der Altersstruktur eine der Zielgruppen der Internetwirtschaft darstellt. Interessant in dem Zusammenhang auch, dass die gleichen Kriterien für die Indexerhebung auch für die anderen E‑Town-Städte gelten – aus dieser Sicht gewesen: digitale Geisterstädte ohne Einwohner, nur mit Unternehmen. Inwieweit dieser Index also wirklich geeignet ist, um tatsächlich eine Stadt als „E‑Town“ zu bezeichnen, diese Antwort weiß nur Google allein. Böhme hatte allerdings gleich zu Beginn gesagt, dass er beruflich viel mit dem Internetkonzern zusammenarbeite – insofern war klar, dass er nicht unbedingt seinen Geschäftspartner kritisch beleuchten würde. Wieso Böhme dann aber den Namen eines heimischen Sport- und Freizeitartikelhauses nannte, um zu zeigen, wie schlecht dessen Aktivitäten sei, wenn es um Marketing mit Google gehe („Nur über Googlemaps gefunden zu werden, reicht eigentlich nicht. Das Unternehmen könnte eigentlich vielmehr aus seinem Auftritt bei Google machen“), das blieb ebenfalls rätselhaft. Besagtes Unternehmen dürfte dadurch eher abgeschreckt werden. Dass es ihm darum ging, Google ins richtige Licht im Vergleich zu Facebook zu setzen, wurde anhand der vorgestellten Statistiken und Zahlen klar.
„Künftig wird es den Beruf des Informationsprokuristen geben“
Von Sascha Lobo schließlich sollten die korriergienden Worte kommen: Er stellte zumindest für den deutschen Internetnutzerkreis fest, dass hier eindeutig Facebook als soziales Netzwerk die Nase vorn habe. Vor Google+ und anderen Diensten wie der der VZ-Gruppe, die nahezu zur Bedeutungslosigkeit abgesunken sei. Dennoch führe kein Weg an Google vorbei, wenn es darum gehe, Geschichten schnell weiter zu erzählen. Selber als Marke einen Wert zu gewinnen, bekannt zu werden. Dass hierbei allerdings auch Twitter eine Rolle spielt, erklärte Lobo mit dem Beispiel des Twitter-Nutzers Merlix. Dieser habe eigentlich in einem Tweet Percanta schreiben wollen. Er verschrieb sich und Percanat entstand. Dies habe soweit geführt, dass es viele Internetnutzer gegeben habe, die glaubten, dass dies etwa der Name eines Medikaments oder auch eines Bodenbelags wie Laminat sei. Auf jeden Fall sei etwas, was es eigentlich nicht gebe, zu etwas geworden, was es doch gibt – Zumindest im Netz. Erik Hauth hatte dieses Phänomen bereits 2007 in seinem Blog beschrieben.
Um derartige Phänomene in den Griff zu bekommen oder auch, um das eigene Unternehmen nicht Opfer von Negativkampagnen im Netz werden zu lassen, sprach Lobo davon, dass sich vermutlich in naher Zukunft der Beruf des Informationsprokuristen herausbilden würde. Dies sei dann nicht irgendein Praktikant, der damit beauftragt werde, die Social-Media-Arbeit zu leisten und im Netz Rede und Antwort zu stehen – sondern eben eine Persönlichkeit, die tiefe Unternehmenskenntnisse habe und genau wisse, wie im Einzelfall reagiert werden müsse.
Edgar Reinhardt meint
Das NEG bleibt nicht ohne Nachfolge. Das Bundeswirtschaftsministerium wird ab 1.10.2012 das „eKompetenznetzwerk für Unternehmen“ im Rahmen der Initiative „Mittelstand digital“ fördern. Damit wird zwar keine kostenlose Beratung mehr für kleine und mittlere Unternehmen angeboten, jedoch werden den Unternehmen – und zwar allen – Informationen, Broschüren, Leitfäden, Checklisten usw. zur Verfügung gestellt und Informationsveranstaltungen und Workshops angeboten. Unternehmen werden sensibilisiert und informiert. Die neuen Kompetenzzentren im neuen Netzwerk werden vereinheitlichte Namen tragen, und zwar „eBusiness-Lotse.de/Name-der-Region“. – Die Fortsetzung der Arbeit wäre relativ glatt gelaufen, wenn das BMWi den Antragstellern rechtzeitig die erforderlichen Zuwendungsbescheide übermittelt hätte. – Da dies nicht geschehen ist, und ich keine Sicherheit hatte, weiterhin bzw. erneut von der IHK angestellt zu werden, habe ich mich beruflich anders orientiert.
Edgar Reinhardt meint
Mehr Informationen zum Nachfolgenetzwerk des BMWi gibt es hier: http://goo.gl/g9vwp – in der Tat: gut versteckt!
Olivia meint
Was ist mit den Persönlichkeitsrechten eines jeden Einzelnen? Im Netz in der Familie und im Berufsleben? Danke für diesen Artikel, dieser greift die aktuelle Debatte um die Spionage und Zukunftsprognosen auf und hilft Menschen bei Ängsten in diesem Bereich weiter. Mit der zunehmenden Medialisierung ist davon auszugehen, dass sich alles in die Welt des World Wide Webs verlagert und so muss die Fragestellung des Schutzes der eigenen Persönlichkeitsrechte wahr- und ernst genommen werden.
Christoph von Gallera meint
Danke Olivia für den Kommentar. Sicher ist das ein weites Feld. Aber es hat auch jeder in der Hand, wieviel er von sich preisgeben will. Ein Stück weit ist die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten in Sachen privater IT-Sicherheit auch gefragt. Fängt schon damit an, dass man sensible Informationen nicht zwangsläufig immer durchs Netz jagen muss.…;-) Oder dafür eigene getunnelte Wege nutzt…