UMWELT/POLITIK und WIRTSCHAFT
Fliegt ein Atomkraftwerk in die Luft, ist das eine echte Katastrophe. Und Unglücke mit AKW gehören, so makaber es klingt, zum „guten Ton“ der Industriegeschichte bis zum jüngsten Unglück von Fukushima, das insbesondere in Deutschland zu einer radikalen Trendwende in der Energiepolitik führte. Das hatte der Gießener Strahlenwissenschaftler Professor Dr. Jürgen Kiefer in einem Interview mit dem Mittelhessenblog vorhergesagt, als die deutsche Medienlandschaft von den Befürchtungen einer Bedrohung für Deutschland beherrscht war. Nun ist bei Kirtorf, einer kleinen Landstadt im Vogelsbergkreis, der zu Mittelhessen gehört, unverhofft der Rotor einer Windkraftanlage (WKA) in die Tiefe gestürzt – und sorgt für ebensolche Aufregung im Blätterwald. Bishin zur Forderung des Vogelsberger Landrats Rudolf Marx (CDU) an das ebenfalls von einem CDU-Mann geleitete Regierungspräsidium in Gießen, bis auf weiteres alle 17 WKA des gleichen Typs im Kreis abzuschalten. Dort will man aber erst einmal die Untersuchung am heutigen Dienstag abwarten. Und das könnte schlau sein. Denn: Das schwächste Glied könnten die Schrauben sein, die möglicherweise der Wucht des Windes nicht standgehalten haben.
„Mein Neffe erzählte mir noch, da oben ist heute Mittag ein Windrad abgestürzt. Jaja, habe ich ihm gesagt, der erste April war schon“, kann Wolfgang Sommer noch am Montagabend nicht das fassen, was am 19. Juni sich wenige hundert Meter Luftlinie entfernt auf dem Feld abgespielt hatte. Dem Kirtorfer wird noch mulmig bei dem Gedanken, dass er sonst mit dem Mountainbike über die Feldwege fährt, die durch die Gemarkung führen, auf dem die Anlagen stehen. „Und Großvater fährt hier mit dem Trecker lang“, besieht sein Sohn ebenfalls ungläubig den zertrümmerten RotorUrpötzlich war von einem der vier Anlagen vom Typ DeWind D6 1000 KW der Rotor mitsamt Gondel und dem oberen Teil des Mastes abgebrochen und auf das Feld gestürzt. Dabei wurde auch noch das Trafohäuschen zerstört. Ob der Wind eine Rolle gespielt haben könnte? Der Geschäftsführer der Ovag-Tochter Hessenenergie, Horst Meixner bezweifelt dies. Auch in einschlägigen Foren wie Skywarn wird das bezweifelt. Dort geht man eher von Materialermüdung oder einem Versagen der Bremsanlage des Rotors aus.
„Das ist eigentlich unmöglich, dass das hier passiert ist. Die Schrauben müssten das eigentlich aushalten“, sagt Sommer, der selber gelernter Maschinenbautechniker ist und rein fachlich weiß, wie er Schrauben beurteilen muss. „Zur Windanlagentechnik selber kann ich nichts sagen, da bin ich fachfremd“, weist Sommer Fragen in diese Richtung gleich ab. Aber angesichts der Abrissspuren an den Löchern, in denen Teile der Bolzen steckten, die das Windrad zusammenhielten, ist Sommer einfach nur erstaunt und hofft, dass es nicht Kamax-Schrauben waren, die das Rad zusammenhielten. Die Schraube ist das wesentliche Element, eigentlich das A und O nicht nur in einer Windkraftanlage stellt noch jemand anders unabhängig vom Kirtorfer Windradunfall fest: „Schrauben sind Verbundelemente für einfach alles“, sagt Ingrid Brand-Friedberg, Geschäftsführerin des Schraubenherstellers Friedberg in Gelsenkirchen.
Dass an Schrauben als die wesentlichen Verbindungselemente einer WKA höchste Ansprüche gestellt werden müssen, heißt es auch in der Peiner Umformtechnik in Peine. Von dort stammen die Schrauben und Muttern, die in dem Mast der WKA in Kirtorf verbaut waren. „Peiner, 10.9 HV“ steht auf den Köpfen der rund 20 Zentimeter langen Schrauben. Und diese Schrauben werden nicht einfach als Massenprodukt in den Markt gehauen, sondern werden Stück für Stück handverlesen mit individueller Seriennummer hergestellt. Das zumindest erklärt der in Schweinfurt ansässige Vertrieb W&Z in einer Produktinformation. Das ungläubige Staunen des Maschinenbautechniker Wolfgang Sommer, genauso aber die Verblüffung des Hessenenergie-Chefs Horst Meixner dürften also angebracht sein. Dieses Staunen dürfte insofern bei der Betreiberfirma und den verantwortlichen Aufsichtsbehörden noch mehr angebracht sein, als Branchenexperten dem Mittelhessenblog gegenüber bestätigt haben, dass Ermüdungserscheinungen eigentlich so gut wie ausgeschlossen sein dürften, da Windkraftanlagen turnusgemäß im Zweijahres-Abstand überprüft werden müssen. Möglich sei aber, dass bei Schrauben, die sich gelockert haben, diese unter Umständen wie durch einen Domino-Effekt durch eine Erschütterung plötzlich eine nach der anderen sich gelöst haben könnte.
Aufsichtspflicht über Windkraftanlagen liegt beim Kreis
Die Aufsicht über die Anlagen, sprich eigentlich auch darüber, wie die Anlagen gewartet wird und welche Ergebnisse dabei herauskämen, läge bei der jeweiligen Kreisbehörde. So wurde dies auch beim Regierungspräsidium in Gießen bestätigt. Dort will man offiziell erst einmal den Ausgang eines Gutachtens anfordern, der Vogelsbergkreis selber stehe in der Pflicht, „zügig“ einen Bericht über die Überprüfung der Windkraftanlage vorzulegen. Wie aus Branchenkreisen dem Mittelhessenblog gegenüber weiter bestätigt wurde, werden die Überprüfungen von Windrädern zum Teil lax gehandhabt. Je älter oder je weniger leistungsfähig würde mitunter eine Kostennutzen-Rechnung von Ertrag zu Überprüfungskosten angestellt. Diese Denkweise sei aber eine „typische Milchmädchenrechnung“. Trotz des Unglücks in Kirtorf, bei dem glücklicherweise niemand verletzt wurde oder ums Leben kam, sei die Windkraft dennoch eine sichere Energieform. Vom Vogelsbergkreis war bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Stand 21.Juni 15:05 Uhr) keine Stellungnahme zu bekommen.
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christian meint
Hallo, ein sehr intressanter Artikel. Was mich sehr zu denken gibt, ist ob an der WIndkraftanlage Kirtorf ein fehler beim Material bzw. beim Aufbau dieser Anlage war.
Wenn der Kreis für die Wartung der Anlagen zu ständig ist, frage ich mich ob sie diese denn auch regelmäßig gewartet hat oder aber nicht.