POLITIK und WIRTSCHAFT/UMWELT
Ob die Standpreise oder die Entfernung für die geringe Teilnahme verantwortlich waren, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Mittelhessen mit fünf Ausstellern auf der Weltleitmesse rund um ökologische einwandfreie Ware vom Pullover bis zum Honig, auf der Doppelmesse Biofachund Vivaness zwar nicht stark, dafür aber mit auffallenden Produkten vertreten war. Genauso interessant ist aber auch, dass Spuren aus Mittelhessen vom Kernbegriff des umweltbewussten Handelns, nämlich der Nachhaltigkeit, aus dem 18. Jahrhundert, zum Bloggertreffen rund um die Nachhaltigkeit führen, das jetzt zum vierten Mal unter dem Dach der Biofach in Nürnberg stattfand.
Mit RespectBio aus Weimar an der Lahn und SD Natur aus Leun waren zwei junge Firmen dabei, die die Messe als Plattform zum Noch-Bekannter-Werden nutzen wollten, während etwa für die Laubus-Eschbacher eingesessene Familienkelterei Heil der Messeauftritt vor allem einem Zweck diente: Zu zeigen, dass das „Stöffche“, der Petzer, Äbbelwoi, Eppler, Ebbelwoi und wie das Nationalgetränk der Hessen in den unterschiedlichen mundartlichen Ausprägungen noch heißen mag, inzwischen auhc dort angekommen ist, wo man es am wenigsten vermutet hätte: In Berlin. Dort, so berichtete Geschäftsführer Martin Heil auf dem hessischen Gemeinschaftsstand der Marketinggesellschaft Gutes aus Hessen, helfe Lydia Grummt seit Anfang des Jahres, den Apfelwein mit dem neuen „Fichtekranz“-Konzept in der Bundeshauptstadt und Leipzig bekannter zu machen. Die junge Frau war im Rahmen ihrer Abschlussarbeit als Kulturwissenschaftlerin das hessische Nationalgetränk und die Kelterei Heil näher kennengelernt. Die Marke Fichtekranz hatte Heil 2007 entwickelt, „um mit einem neuen Geschmack den Apfelwein moderner zu machen“ . Dass die Äpfel für den Wein aus biologisch einwandfreier Erzeugung stammen sprich ohne Verwendung chemischer Hilfsmittel wie Pestiziden oder agrochemischem Dünger auskommen, sei selbstredend.
Strategische Fehleinschätzung der Messe Frankfurt – Glück für die Nürnberger
Dass man über Geld in der Regel nicht spricht, ist ein offenes Geheimnis. Geld war letztlich der Grund, weswegen die Biofach 1998 der Frankfurter Messe den Rücken gekehrt hatte. Aber ausgegeben wird es dann doch. Etwa um pfiffigen Geschäftsideen eine Plattform zu geben oder einfach mal mehr Zeit für Kunden zu haben, die sonst nur aus der Orderstimme am Telefon bestehen. „Wer auf die Biofach will, muss schon Geld in die Hand nehmen“. Dieser Kommentar war nicht nur im mittelhessischen Raum im Vorfeld der jüngst beendeten Biofach 2011 zu hören. Dabei waren die Biofachler selber vor Urzeiten vor den für sie damals teuren Preisen der Messe Frankfurt geflohen. Inzwischen dürfte sich die Messeleitung in Frankfurt schwarz ärgern, dass sie die einstige „Freakshow“ hat ziehen lassen. Seitdem die Messe 1998 Frankfurt den Rücken gekehrt und in Nürnberg zu neuen Ufern aufgebrochen war, habe sich die Biofach zu einer Fachmesse entwickelt, die vor allem von Besuchern und Ausstellern genutzt würden, die wüssten, was sie wollten. Diese Einschätzung bestätigt auch Erich Margrander, Herausgeber des Fachmagazins für Naturprodukte „Biopress“. Margrander begleitet die Fachmesse seit ihren Anfängen in Hessen. Dass die Frankfurter die heutige Weltleitmesse an Nürnberg verloren hatten, lag unter anderem auch daran, dass man in Frankfurt für die Messen 1999 und 2000 mit März einen zu späten Termin angeboten, wie es in einer Veröffentlichung der Textilwirtschaft vom 5. März 1998 heißt. Ein anderer Grund seien damals aber auch zu hohe Gebühren gewesen, berichten in Nürnberg 2011 langjährige Aussteller. Was sich mit dem Umzug von Frankfurt nach Nürnberg allerdings auch geändert hatte, war das Publikum gewesen: Internationaler, bunter, mehr Fachhandel. Den Eindruck bestätigen für die Biofach 2011 auch vier der fünf mittelhessischen Unternehmen als Motiv für ihre Teilnahme.
Braun war gestern – Grün ist heute – Vielzweckfrucht Kokosnuss
Für die 2005 entstandene respectBio aus Weimar um Geschäftsgründer Dr. Steffen Borzner sei es vor allem die Gelegenheit gewesen, einmal mehr dem Saft aus der jungen grünen Kokosnuss aus Mexiko oder dem gerade erst entwickelten Maulbeersaft eines türkischen Geschäftspartners eine Plattform zu bieten,. Wie Borzner erklärte, sei im Handel bisher nur die braune Kokosnuss bekannt. Grüne gebe es so gut wie nicht. Als „Dr.Martins Coco Drink“ vertreibt Borzner den Saft als bisher einziger Anbieter auf dem europäischen Markt. Weil die Kokosnuss allerdings aus mehr besteht als nur Fruchtfleisch und Saft, sei die ganze Nuss interessant. Aus dem Grund sei nun das „Green Coco Non-Food-Project“ unter der Leitung seines Mitarbeiters Hanno Groth entstanden, dass Borzner ebenfalls auf der Biofach 2011 vorstellte.
Ziel des von der österreichischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit geförderten Projekts sei die Schaffung „nachhaltiger Wertschöpfungsketten“ zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im mexikanischen Bundesstaat Tabasco. Weltweit würden bisher nur rund zehn Prozent der Kokosnussfasern weiter verarbeitet. Einsatzmöglichkeiten gäbe es etwa als Anzuchtmaterial in Gärtnereien. In Europa sei die Faser bisher eher exotisch. Dem Werkstoff Kokosfaser will Borzner in Europa über die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Hochschulen zum Durchbruch verhelfen. Wie er sagt, sei von den Projektpartnern gegenwärtig eine Zertifizierung der Kokospalmen in Mexiko nach den Naturland-Richtlinien geplant.
Kultgetränk und Wurst aus Bioschweinen aus Taunus und Vogelsberg
Für Martin Heil, Geschäftsführer der gleichnamigen familiengeführten Kelterei aus Laubus-Eschbach war vor allem der Grund entscheidend, dem hessischen Nationalgetränk in seinem neuen Fichtekranz-Gewand mit Lydia Grummt als neuem Gesicht zu weiteren Liebhabern zu verhelfen. Eher zurückhaltend reagierte dagegen Lieselotte Haremza, Betriebsleiterin des Hephata-Biogutes in Alsfeld. „Wir sind ja doch eher in der Region zuhause mit einem Raduis von vielleicht 200 Kilometern um Alsfeld“, so Haremza. Für die Zukunft werde überlegt, ob man sich weiter an der Biofach beteilige, die sich ja in erster Linie an das ausgesprochene Fachpublikum und nicht so sehr an den Endverbraucher richte. Dennoch sorgten die Biobauern aus dem Vogelsberg mit ihrer Wurst für die ideale Ergänzung zum Angebot des mittelhessischen Apfelweinbotschafters.
Mittelhessen und die Kräuter aus der Heimat des Parfum
Internationalität ist letztlich auch das Motiv der beiden Anbieter Biosun und SD Natur aus dem Lahn-Dill-Kreis, die auf der Vivaness für ihre Produkte im Bereich der Naturkosmetik angetreten sind. Unter diesem großen Oberbegriff hatte die Messe Nürnberg, die 2001 die Rechte an der Biofach erworben hatte, 2007 zum ersten Mal die Vivaness angeboten. Mindestens solange kennt auch David Knipper diese spezielle Messe, als er dort noch für einen anderen Aussteller in Sachen Naturkosmetik unterwegs war. Der gelernte Industriekaufmann hat inzwischen mit seinem Partner Sebastian Menge, der von Haus aus gelernter Koch ist, selber Gefallen am eigenen unternehmerischen Wagnis mit der Nachhaltigkeit gefunden und sich vor kurzem mit der Vertriebsfirma SD Natur in Leun selbständig gemacht. Knipper will insbesondere mit ätherischen Ölen aus dem Region am Oberlauf der Loire den deutschen Markt erobern. Sein französischer Partner ist Abessience in Verrières-en-Forez im Departement Loire in der Region Rhone-Alpes ‑also mitten in der Heimat des Patrick-Suskind-Bestsellers „Das Parfum“. Lavendel, Thymian, Myrrhe und andere Kräuter werden im Forez angebaut und in speziellen Destillatverfahren in die Grundlage für Öle, Shampoos, Gele und einiges mehr für den Wellnessbereich verwandelt. Gleich mehrfach zertifiziert sichert das Unternehmen den Nachweis der umweltverträglichen Herstellung ab mit den Siegeln von Ecocert und Agriculture Biologique.
Ohrkerze der Hopi-Indianer macht mittelhessisches Unternehmen zu Weltmarktführer
Während Knipper noch am Anfang seines Unternehmens steht, haben die Heilkünste der Hopi-Indianer einem anderen Mittelhessen geholfen, sich, wenn es um die heilenden Kräfte von Ohrenkerzen handelt, mit seinem Unternehmen als Weltmarktführer auf diesem Sektor zu etablieren. Die Rede ist von Biosun, das seinen Sitz im Schöffengrunder Ortsteil Schwalbach hat und 1983 von Udo Leschik gegründet wurde. Heute beschäftigt das Unternehmen rund 37 Mitarbeiter und steht damit für eine Entwicklung, die der Weimarer Kokosnuss-Pionier Borzner mit diesen Worten umreißt: „Wir haben es in der Biobranche, egal wo wir hingucken, mit einem Wachstumsmarkt zu tun. Allein in den vergangenen drei Jahren sind hier in Deutschland damit rund 140000 neue Arbeitsplätze entstanden.“
Abwanderungsbewegung nach Nord und Süd – Heimat für Nachhaltigkeitsblogger
Dass die Palette von kleinen, aber innovativen mittelständischen Unternehmen bis hin zu weltumspannenden Firmen-Netzwerken reicht, wurde auf der Biofach 2011 deutlich. Dennoch hat die Messe inzwischen mit Abwanderungsbewegungen zu kämpfen: Mit der Bio-Nord und der Bio Süd seien auf dem deutschen Markt zwei Messen entstanden, die vor allem die Händler nutzen, die in dem internationalen Umfeld der Nürnberger Biofach keine Chance mehr für ihre regionalen Produkte sehen. Hier setzt unter anderem eine Kritik des Bio-Press-Herausgebers Margrander an, der vor der Biofach 2011 gesagt hatte, dass dort eigent lich alle Konzepte vom kleinen Markt um die Ecke bis zum großen Discounter eine gemeinsame Basis finden sollte. Gegenüber dem Mittelhessenblog erklärte er, dass einem Fachhandel mit einem Umsatz von 1,3 Milliarden Euro im Biobereich der Einzelhandel mit 3,7 Milliarden Euro gegenüber stehe. „Diese Zahlen sprechen eigentlich für sich, sie schlagen sich aber in der Konzeption nicht nieder.“ Im Grunde, so Margrander, wäre es eigentlich besser gewesen, wenn sich aus der Biofach eine Wandermesse an zentralen Orten in Deutschland entwickelt hätte.
Im Kern der Biofach-Idee, die seinerzeit von Hagen Sunder und Hubert Rottner ins Leben gerufen wurde, steht der Begriff der Nachhaltigkeit. Der wiederum stammt aus der Forstwirtschaft und wurde von einem Mittelhessen entscheidend geprägt. Es war der aus Gladenbach stammende Forstwissenschaftler Georg Ludwig Hartig, der in seinem 1791 erstmals aufgelegten Lehrbuch „Anweisung zur Holzzucht für Förster“ Grundlagen der Nachhaltigkeit definierte. Im Kern geht es um den schonenden Umgang mit unseren natürlichen Rohstoffen, so das nie mehr verbraucht wird, als wieder nachwachsen kann. Auf die Herkunft aus der Holzwirtschaft wies denn der Begründer des jetzt zum vierten Mal veranstalteten Bloggertreffens rund um die Nachhaltigkeit, Herwig Danzer, hin. Der Mitgeschäftsführers des Kompletteinrichters „Die Möbelmacher“ hat mit seinem Nachhaltigkeitsblog eine Plattform ins Leben gerufen, auf der seine Mitarbeiter über regionale Wirtschaftskreisläufe und nachhaltige Arbeitsweise aus ihrer näheren Heimat berichten. In Nürnberg hatten sich indes allerdings Angehörige unterschiedlichster Alters- und Berufsgruppen gefunden, die ihre Gedanken rund um Nachhaltigkeit via Blog, Twitter oder Facebook austauschen. Mit Christoph Harrach, der heute in Frankfurt die Trendforschungsgesellschaft Karmakonsum leitet, war übrigens auch ein waschechter Mittelhesse auf dem Bloggertreffen, der den Nachhaltigkeitsgedanken des Forstwissenschaftlers Hartig im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert aufgegriffen und zum Lebensprinzip gemacht hat. Nichtzuletzt sorgte mit Sina Trinkwalder aus Augsburg eine junge quirlige Unternehmerin für frischen Wind in der mittlerweile in die Jahre gekommenen Bioszene. Als @manomama ist sie bei Twitter unterwegs und betreibt unter gleichem Namen ihr Blog und Unternehmen. Welche Schwierigkeiten es gibt, wenn man als kleiner Betrieb zertifiziert werden will, davon handelt einer ihrer jüngste Blogeinträge.
Manuel Heinrich meint
„Dies hatte seinerzeit Erich Margrander, Herausgeber , auch nicht unbedingt in der Bioszene.“ …mit dem Satz stimmt irgendwas nicht 🙂
Ansonsten: schöner, langer Artikel mit vielen neuen Infos. Danke!
Christoph von Gallera meint
Danke für den Hinweis: Der Artikel ist nachts zwischen 2 und 3 Uhr online gestellt worden. Offensichtlich ist dieser „Nichtsatz“ bei der Korrektur durchgerutscht. Inzwischen sollte der Fehler beseitigt sein. Im übrigen Danke für die Komplimente – mit einem kleinen Flattr nimmt die Freude, rund um Mittelhessen zu recherchieren und aufzubereiten noch etwas mehr zu 🙂
Beste Grüße
Christoph v. Gallera
Redaktion
Mittelhessenblog
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