Liebe Mittelhessenblogleser: Stuttgart 21, Proteste gegen Castortransporte, im Frühjahr Proteste gegen Streichungen im Bildungsbereich: Die Orte, an denen der bürgerlich-liberalen Koalition in Berlin rauher Wind aus der Republik um die Nase weht, nehmen zu. Nun ist der Unwille auch wieder in Gießen angekommen. Die mittelhessische Stadt an der Lahn, in der die Justus-Liebig-Universität mit ihrem Wissenschaftsbetrieb, Ausgründungen und den nach- und vorgelagerten Dienstleistungs- und Handwerlsbetrieben immer noch einer der, wenn nicht sogar der größte Arbeitgeber ist, hat den Ruf, die Stadt mit der höchsten Studentendichte Deutschlands zu sein. Gemessen daran, wirkte der Protest der Gewerkschaftssenioren nun eher verhalten: 350 Demo-Teilnehmer hatte Verdi gemeinsam mit dem DGB mobilisiert, um gegen die aktuelle Sozial‑, Renten- und Gesundheitspolitik der bürgerlich-liberalen Regierung in Berlin zu protestieren.
50 Teilnehmer waren aus Kassel , weitere 50 waren aus Wiesbaden angereist, die restlichen 250 kamen aus dem mittelhessischen Raum. Diese eher dünne Resonanz angesichts eines doch eher Generationen übergreifenden Problems löste zumindest unter anwesenden Journalisten Verwunderung aus.
Den Finger in eine aus Sicht weiterer Bevölkerungsteile schwärende Wunde legte die stellvertretende Verdi-Bundesvorsitzende Andrea Kocsis in der Geburts- und Heimatstadt eines der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie, Wilhelm Liebknecht. Schlug sich dieser im 19. Jahrhundert mit den Plänen des Reichskanzlers Otto v. Bismarck herum, so bemüht nun die Gewerkschafterin gut 160 Jahre nach Liebknechts Gießener Zeit ebenfalls wieder Reichskanzler Bismarck. Die aktuelle Bundesregierung, so Kocsis in der mittelhessischen Liebknecht-Stadt, läge mit ihren Plänen weit hinter der Bismarckschen Sozialpolitik zurück. Im Kern warf die Gewerkschafterin in Gießen der Regierung vor, dem Großteil der Bevölkerung die Abzahlung der aufgehäuften Schuldenmilliarden zu überlassen. Das Argument der Bundesregierung, die Bevölkerung habe in der Vergangenheit eben über ihre Verhältnisse gelebt und müsse deswegen eben nun sparen, sei zynisch. Denn tatsächlich „sind es Spekulanten und Manager, die verantwortlich sind.“ Etwa für 500 Milliarden Euro Rettungsgelder, die die Banken unter den Kiel geworfen bekamen und deren Abzahlung im Grunde nun dem Volk überlassen werde. Tatsächlich seien es eben jene, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten.
Die angekündigte Rente mit 67 bezeichnete Kocsis als ungeeignet, die künftigen Rentenversorgungsfragen zu lösen: „Zum einen arbeiten jetzt schon gut 80 Prozent der 60–64-Jährigen nicht mehr in sozialversicherungspflichtigen Verhältnissen. Sie bekommen verminderte Bezüge, weil sie früher aufhören, und müssen nun sehen, wie sie das Vakuum wieder ausfüllen, um Geld zu verdienen“, kritisierte Kocsis. Dabei hätten jene Frühruheständler meistens aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit an den Nagle gehängt.
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