Liebe Mittelhessenblogleser: Sie können sich noch an die Aufregung um Roland Koch erinnern? Den gewesenen hessischen Ministerpräsidenten: Als Hardliner war er verschrieen. Man regte sich auf über seine Verwicklungen in die Schwarzgeldaffäre, seine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und und. Schnee von gestern: Wir haben Stefan Mappus und seinen Innenminister Heribert Rech. Zwischen dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten und seinem Innenminister mögen zwar 16 Lebensjahre liegen, Mappus ist Jahrgang 66 und Rech Jahrgang 50. Mit dem Polizeieinsatz vom 30. 9. 2010, der mit Sicherheit in die Geschichte und das nationale Erinnern eingehen wird, haben sich die beiden Politiker ein unrühmliches Denkmal gesetzt. Warum, dazu liefert unter anderem Maybrit Illners alldonnerstäglicher Polittalk intelligente Informationen: Wenn man das Wörtchen intelligent im Wortsinn versteht: Zwischen den Zeilen lesend – auch wenn die in dem Fall eher akustisch daherkommen.
In der aktuellen Sendung Maybrit Illners , die exakt eine Woche nach dem „bloody Thursday*“ in der baden-württembergischen Landeshauptstadt stattfand, saßen sich FDP-General Christian Lindner und Tunnelbauer Martin Herrenknecht für die Fraktion der Stuttgart 21-Befürworter, Grünen-Parteichefin Claudia Roth und „Parkschützer“-Sprecher Fritz Mielert als Stuttgart-21-Kritiker und ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo in der Rolle des mahnenden abwägenden Beobachters gegenüber – mit einem Überraschunggast aus dem Publikum, der nach eigenem Bekenntnis bisher treuen CDU-Wählerin Christine Oberpaur, die an jenem 30.9. 2010 „hinter der Polizeiabsperrung“ selber an der Demonstration teilgenommen und die Wucht des Wasserwerfers und die Augen und Atemwege reizende Wirkung von Pfefferspray und Tränengas abbekommen hatte.
Für sie sei an diesem Tag eine Welt zusammengebrochen, so die Stuttgarterin. Ihrer bisherigen Stammpartei, bei der sie sich immer gut aufgehoben und als Person wahrgenommen empfunden hatte, werde sie künftig keine Chance mehr geben, bekannte Oberpaur vor einem Millionenpublikum. Was in Illners Sendung verschwiegen wurde und der Aussage der gut bürgerlich, sprich sehr kultiviert wirkenden Frau noch mehr unterstrichen hätte, offenbart das kühle Faktengedächtnis des Internets: Oberpaur blickt auf eine lange berufliche Erfahrung als Konfliktberaterin. Oberpaur ist Jahrgang 1946, Organisationspsychologin, Wirtschafts- und Lehrmediatorin, gehört dem Zertifizierungsausschuss der Deutschen Gesellschaft für Mediation in der Wirtschaft in der Wirtschaft an, bildet selber in Mediation aus. Hinter dem Wort verbirgt sich eine Methode, mit der verfahrene Situationen in der Wirtschaft oder bei Verhandlungen gerettet werden sollen. In Schulen werden Mediatoren als Konfliktschlichter eingesetzt. Oberpaurs Aussage in Illner Sendung gewinnt mit diesem Wissen eine in der Tat zusätzliche Wucht und konterkariert die Worte des FDP-Generalsekretärs Lindner, der zwar sagt, „wir wollen solche Bilder nicht mehr sehen“ , auch nicht die von Bürgern, die sich unversöhnlich Auge in Auge gegenüber stehen, der aber auf Illner Nachbohren, ob sich der Staat ein solches Auftreten erlauben darf, die Antwort schuldig bleibt.
Für Aufmerksamkeit sorgt auch di Lorenzos Einwurf: Er halte das Wort vom Widerstand für ungeschickt. Es erinnere zu sehr an Zeiten der Diktatur. Besser sei es doch von Protest zu sprechen. Immerhin attestiert di Lorenzo den „Protestanten“ in der Schwaben-Metropole, dass sie mit ihrer Sturheit etwas zustande gebracht hätten: Dass inzwischen bundesweit über den Polizeieinsatz am 30. September 2010 in Stuttgart gesprochen wird. Ein Blick in Online-Schlagzeilen im Internet zeigt, dass sich auch die ausländische Presse mittlerweile mit dem Stuttgarter Bahnhofsprojekt befasst.
Was bleibt übrig von dieser Illner-Runde und den kurz vorher über den Äther und durch die Breitbandkabel jagende Nachricht von den Bemühungen des früheren CDU-Generals Heiner Geißler als Streitschlichter zwischen Landesregierung und Stuttgart-21-Gegnern?
Der Eindruck, den eine politische Karikatur aus den USA aus dem Jahr 1911 vermittelt.
1911 ging es zwar um Kapitalismus-Kritik. Die Pyramide dieser Karikatur ist selbsterklärend. Nur selbsterklärend ist auch, was Tunnelbauer Martin Herrenknecht bei Illner erklärt. Wer gegen das Bahnhofs-Projekt sei, sei letztlich auch gegen ihn. Das könnte stimmen, wenn man den Privatmann Dr. Martin Herrenknecht einmal ausblendet. Denn wer dafür sorgt, dass eine Pfarrstelle erhalten bleibt, beweist zumindest auf diesem Gebiet soziales Gewissen. Andererseits: Herrenknechts Unternehmen, nach Brancheneinschätzungen der Weltmarktführer im Tunnelbau, profitiert vom Stuttgarter Großprojekt: 3 Milliarden Euro werden für den Bau veranschlagt, ein Löwenanteil für den Bau von 35 Kilometern Tunnel.
Inwieweit nun der Polizeieinsatz ein politisch gesteuerter war, das zu entscheiden, das ist Ihre höchstpersönliche Meinung, die Sie auch gerne über die Kommentarfunktion kundtun dürfen. FDP-General Christian Lindner hatte diese Vermutung in Illners Sendung empört zurückgewiesen. Die Bilder des Einsatzes und offiziellen Reaktionen darauf sprechen indes eine andere Sprache.
*Bloody Sunday 30th January 1972 , Derry, Ireland -Bloody Thursday 30. September 2010 Stuttgart
* „Bloody Thursday“: Es gab zwar – Gott sei Dank- in Stuttgart keine Todesopfer zu beklagen. Dass unbescholtene Schüler, Kinder und alte Menschen aber die volle Wucht einer brutalen Staatsmacht zu spüren bekamen, ist ein Unding. Am 30. Januar 1972, bald vor 28 Jahren kamen 14 ebenso unbescholtene Menschen bei einem ebenfalls entfesselten Sturm staatlicher Gewalt in Derry, Irland, ums Leben. Ihr Fehler: Sie nahmen an einem Protestmarsch für Bürgerrechte teil. Auf den Marsch eröffneten britische Soldaten das Feuer. Diesem Ereignis hat die irische Rockband U2 mit ihrem Lied „Bloody Sunday“ ein Mahnmal gesetzt. Mit dem 30. September 2010 hat Deutschland seinen „bloody thursday“ bekommen. Deutsche Rockmusiker: Ihr seid aufgerufen, diesem Tag ein genauso unvergängliches Mahnmal zu setzen – für Stuttgart.
Silvi meint
Die Demonstrationen haben wieder einmal gezeigt, dass die Polizei oftmals viel zu hart durchgreift. Natürlich gibt es einige, die nicht friedlich demonstrieren wollen, aber für die wenigen benötigt man keine Wasserwerfer.