Liebe Mittelhessenblogleser: Eine zerstrittene Koalition in Berlin, ein nun endgültig zum Bundespräsident a.D. gewordener Horst Köhler, ein zurückgetretener Ministerpräsident in Hessen, politisches Kuddelmuddel in Nordrhein-Westfalen, eine Partei, deren Wurzeln sich mit bis zur ehemaligen SED verfolgen lassen, die nun vehement gegen einen möglichen Bundespräsidenten Joachim Gauck spricht. Das Land macht den Eindruck, als würde seine politische Führung wie ein Haufen aufgeregter Hühner durcheinander rennen, angesichts der Tatsache, dass der Fuchs vor der Tür steht. Was die Bundesregierung angeht: Nun, sie wurde von denen, die zur Wahl gegangen sind, so gewählt. Dass die heißgeliebten Wunschpartner nach nur acht Monaten im Dauerstreit liegen, war ja so nicht vorauszusehen. Aber gewählt ist gewählt. Bis zu einer möglichen Neuwahl. Geht es aber um den Bundespräsidenten, gäbe es eventuell eine Alternative. Sieht man sich die Umfragewerte an, so ist klar, wer im Volk das Rennen machen würde: Joachim Gauck. Wer nimmt aber tatsächlich Rücksicht darauf?
Horst Köhler selber war es, der zuletzt noch einmal für die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk eintrat. Gaucks Wahlgegner, Christian Wulff, der gegenwärtige niedersächsischen Ministerpräsident, tritt dagegen für das bisherige Verfahren ein. Die Absicht ist klar: Wulff weiß, dass er bei einer Direktwahl keine Chance hätte. Blicken wir zu unseren französischen Nachbarn, wird der Präsident direkt vom Volk gewählt. Sicher: Anders als der deutsche, ist er auch mit einer größeren Machtfülle ausgestattet. Aber die wesentliche Frage ist eine andere: Wann traut sich die seit 1949 in den westlichen Demokratien verankerte Bundesrepublik Deutschland endlich, ihren Bürgern das Maß an demokratischer Mündigkeit und Verantwortung zuzugestehen, von denen im Schulunterricht immer wieder die Rede ist. Plebiszitäre Elemente scheinen die vom Volk gewählten Vertreter mitunter zu fürchten, wie der Teufel das Weihwasser. Dabei hätte dies zumindest für die Lösung von Personalfragen in politischen Führungsämtern sicherlich einen Reiz. Die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten zeigt dies. In der konsequenten Weiterentwicklung dieses Gedanken kommt man aber wieder zu der zentralen Frage unseres Grundgesetzes. Als Provisorium in der seinerzeit ebenfalls als Provisorium eingerichten alten Bundesrepublik Deutschland sollte das Grundgesetz solange Gültigkeit haben, bis „das Deutsche Volk in Freiheit“ zusammentritt und sich in einer direkten Wahl durch das Volk eine neue Verfassung gibt. Wie die Realität aussieht, ist bekannt.
Im Jahr 20 der deutschen Wiedervereinigung sei deswegen die Frage gestattet: Wann wird dem deutschen Volk das zugestanden, wohin man es in den 60 Jahren seit Gründung der alten Bundesrepublik Deutschland führen wollte: in eine echte Demokratie westlicher Prägung. Die Zeit, um die drangenden Fragen unserer Gegenwart zu regeln, ist dafür sicherlich mehr als reif.
Streiflicht Preußen
2000 kursierte im Zusammenhang mit der Frage der Zusammlegung der Bundesländer Berlin und Brandenburg zum Bundesland Preußen noch eine andere Frage: Die Wiedereinführung der Monarchie nach britischem Vorbild mit dem Haus Preußen. Dass die Idee, Preußen, das in vielfältiger Hinsicht mit der deutschen Geschichte so eng verbunden ist wie kaum eine andere deutsche Region, auch nach zehn Jahren nichts von ihrer Popularität verloren hat, zeigen Leserbriefe und Feuilletonbeiträge etwa bei Merkur und FAZ. Dass es übrigens der sozialdemokratische preußische Ministerpräsident Otto Braun war, der Preußen als stabilen demokratischen Anker in dem von Wirtschaftskrisen und politischen Wirren erschütterten Deutschland etablieren wollte, und dass es Braun war, der bis zuletzt sowohl gegen Nazis und gegen die Kommunisten deutschlandweit vorging, ist zu Unrecht heute weitestgehend vergessen. Vom letzten preußischen Ministerpräsidenten Braun zum Bürgerechtler Joachim Gauck zu denken, ist sicherlich nicht verkehrt.
An den grundlegenden Fragen hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren wenig geändert. Deswegen bringt das Mittelhessenblog einen Kommentar, der im Jahr 2000 anlässlich des Tags der Deutschen Einheit veröffentlicht worden war.
Wann gibt sich das Deutsche Volk seine Verfassung?
Von Christoph von Gallera
Ob es gefällt oder nicht: Zehn Jahre nach der Vereinigung der alten Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu einem neuen deutschen Staat gewinnt die Idee des Staates Preußen wieder mehr an Popularität. Nicht zuletzt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bekannte sich offen zu preußischen Tugenden wie Disziplin, Ehrlichkeit oder auch Zuverlässigkeit und Ordnung.
Ob es nun richtig ist, zugleich auch die monarchische Herrschaftsform wieder zu wünschen, das zu beurteilen, bleibt jedem selbst überlassen. Fest steht jedoch zum Beispiel folgendes: 1794 wurde in Preußen als erstem deutschen Staat das Abitur eingeführt, in Preußen lehrte mit dem Hallenser Rechtslehrer Christian Thomasius erstmals ein Professor in deutscher Sprache Und nicht zuletzt war es auch der preußische König Friedrich der Große, der sagte: „In diesem Staat soll jeder nach seiner Fasson glücklich werden“ und „Ich bin der erste Diener meines Staates.“ Bei all diesen zweifellos guten Neuerungen gibt es aber auch ein staatsrechtlich-preußisches Erzeugnis, das mindestens Anlass zu Fragen gibt: DER RECHTSSTAAT. Von der Idee her gedacht, den Bürger des preußischen Königsreiches nicht einfach königlichen Willkürakten zu unterwerfen sondern sich geordneter Instanzenzwege zu bedienen, war die Schaffung damals sicherlich revolutionär.
Fraglich bleibt der Begriff des Rechtsstaates dennoch. Denn er sagt nichts anderes aus, als dass eben der Instanzenweg zu beachten ist. Falls die Gesetze, die im Instanzengang angewendet werden, aber durch sich selbst Unrecht statt Recht setzen, wird dieses System unglaubwürdig, wenn nicht die Möglichkeit besteht, dass der demokratisch legitimierte Souverän (das Volk) die Gesetze neu formen kann. Das ist aber , zumindest in der Rechtstheorie, nur möglich wenn ein Gesellschaftsvertrag besteht. Zwischen den Bürgern und dem Staat. das wiederum setzt eine vom Volk gegebene Verfassung voraus. Das Gebilde, das so entsteht, heißt Verfassungsstaat.
Den gibt es dem Namen nach in Frankreich. Sinngemäß wird vom Contrat social gesprochen. Und dieser Verfassungsstaat lässt zu, dass sinnlose Gesetze oder Unrecht begründende Gesetze einfach abgeschafft werden können.
Ein Vorgang, der in Deutschland so nicht vorgesehen ist. Welche Prozesse notwendig sind, um ein Gesetz zu ändern, zu kippen oder neu zu setzen? Darüber gibt der Bundestagsserver Auskunft. Welches System ist nun besser: Der zu Zeiten Friedrich des Großen geschaffene Rechtstaat oder der wenig später entstandene französische Verfassungsstaat? Auch hier mag sich jeder selbst sein Urteil bilden. Bemerkenswert ist jedoch, dass das monarchistische Gebilde Rechtsstaat fast eins zu eins auf das moderne Deutschland übertragen wurde und dass bis heute dem deutschen Volk nicht die Chance gegeben wird, sich selbst eine richtige Verfassung zu geben.
togo meint
Es ist schon eine Tragödie, dass der objektiv betrachtet nicht schlechte Kandidat Wulff plötzlich derart unpopulär wird, weil SPD und Grüne quasi aus dem Nichts einen vermeintlich passenderen Präsi in spe zutage förderten. Tragisch auch, dass plötzlich alles, was Köhler zum Vorwurf gemacht wurde (kein politischer Stallgeruch, keine wirkliche Kenntnis der politischen Vorgänge, Neigung zum Kritikastern, etc.) jetzt Vorteile Gaucks ggü Wulff sein sollen.
Was keiner fragt: Zwei Mal nacheinander hat die SPD Miss Vogelnest ins Rennen geschickt – Gesine Schwan, eine nicht nur streitbare, sondern umstrittene Intellektuelle mit bemerkenswert vielen unpräsidialen Aussagen und Positionen. Jetzt, auf einmal, wird der honorable Joachim Gauck ins Rennen geworfen. Warum nicht früher? Und warum fordert die SPD von Wulff, dass er VOR der Abstimmung sein Amt als Landesvater Niedersachsens aufgibt? Ein Johannes Rau musste es einst auch nicht tun. Wenn zwei das Gleiche tun, so ist es noch lange nicht dasselbe…
Eine Diskussion über Preußens Neuinstallation verbietet sich übrigens – bei allem Charme, den eine solche Idee hat – von selbst. Denn Preußen wurde von den Besatzungsmächten nicht nur aufgelöst, sondern sogar verboten. Solange die Besatzungsmächte in Deutschland etwas zu sagen haben – und das haben sie weiterhin zweifelsohne – wird da nichts passieren können. Mal ganz abgesehen davon, dass im Osten ein ganz besonders nervöser Nachbar noch nervöser würde 😉
Christoph von Gallera meint
Danke für den Kommentar 🙂
Die ehemaligen Besatzungsmächte haben in Deutschland seit der Einheit de jure nicht mehr das Sagen, den Allierten Kontrollrat gibt es ebenfalls nicht mehr. Die Idee, das Land Preußen als neues Bundesland wieder aufleben zu lassen, gab es tatsächlich im Zuge eine geplanten Neuordnung der Bundesländer. Inwieweit diese Pläne noch Bestand haben oder nicht, wäre nachzuprüfen. Tatsache ist, dass die Idee des Staates Preußen in seiner positiven Ausprägung wieder eine Renaissance erlebt. Die sprichwörtlichen deutschen Eigenschaften (Fleiß, Pünktlichkeit etc. werden originär ja den Preußen zugeschrieben.)
Zur Person Gauck: Als Person, beide Teile Deutschlands noch stärker zu integrieren, scheint er mir der besser geeignete Kandidat zu sein.
Christoph v. Gallera, Mittelhessenblog