Das Zelt ist schwarzgelb und in die Stahlkugel passen bisher elf tollkühne Männer auf ihren Kisten: Flic Flac hat in Gießen zum zweiten Mal seit 2015 seine Zelte aufgeschlagen. Am 18. Mai war Premiere und Unternehmenssprecher Olli Hoffmüller freut sich auch nach sieben Tagen über die Zuschauerzahlen. Die Mittelhessen sollten die verbleibenden Tage bis zum 28. Mai nutzen. Denn vermutlich gibt es dann erstmal eine längere Pause. Das Mittelhessenblog hat hinter die Kulissen einer ganz eigenen Welt geblickt, die wie der positive Gegenentwurf zur aktuellen politischen Weltlage wirkt.
Er ist im Laufe seines Artistenlebens durch 27 Länder gekommen. Und kann nicht verstehen, warum Menschen sich immer wieder wegen der gleichen Fragen in die Haare bekommen, am Ende dem anderen das Leben nehmen: Auf der kreisrunden Bühne des Flic Flac fasziniert Justin Case die Zuschauer mit seinen Fahrradtricks. Ein paar saftige Worte Deutsch mit einem Akzent, der englisch, französisch daherkommt.
Der 52-jährige Australier nimmt während der Fahrt sein Fahrrad auseinander und schafft es, immer in Fahrt zu bleiben, fährt das Rad ohne Sattel, wippt fahrend vorwärts, baut ein Zweirad in ein Einrad um. Und kommentiert mit deftigen Sprüchen. Hat das Publikum mit seiner clownesken Artistik im Griff. Langeweile kommt nicht auf.…
Im Hintergrund hilft ihm seine Frau und Partnerin Wendy Vousden. Die gebürtige Britin mit niederländischen Vorfahren ist selber stark in der kanadischen Standup-Comedy verwurzelt. Während Justin Case jenseits der Bühnen-Figur Justin nicht daran denken mag,wie sein Heimatland derzeit mit Flüchtlingen umgeht, das selber einst für seine Offenheit gegenüber Einwanderern bekannt war, hat sich für Wendy nichts in ihrer kanadischen Wahlheimat geändert. 2001 zitiert sie Molly Duignan in der kanadischen Studentenzeitung Gazette mit diesen Worten: „I’ve really felt at home in Canada for the very first time since I’ve been here. I think Canada is still one of the most tolerant societies in the world“ -„Ich habe mich von Beginn an in Kanada gleich Zuhause gefühlt. Ich denke, Kanada gehört weltweit immer noch zu einem der tolerantesten Länder. “ Zu diesem Zeitpunkt dachte noch niemand an den Anschlag, der wenige Monate später in den USA das weltpolitische Klima entscheidend verändern sollte, den 11. September 2001. Die kanadische Kollegin hatte sich kurz vor dem Valentinstag im Februar mit der Schriftstellerin und Standup-Comedian unterhalten.
16 Jahre später schüttelt Wendy den Kopf über solche Dinge wie den Brexit und ihr Mann erzählt von Geld, das seine australische Heimat Kambodscha für die Abnahme von Flüchtlingen bezahlen würde, von Abschiebelagern, in denen Flüchtlinge zusammengefasst würden – Nachrichten, die 2015 auch in den deutschen Medien kursieren, mit dem Hinweis auf Österreich.
Ob der Zirkus, das Variete der Zufluchtsort für ein paar Stunden sind? In dieser Weise hatte das die inzwischen verstorbene Clown-Legende Oleg Popov einmal geäußert. Das Leben selbst sei ein Zirkus, sagte Wendy Vousden in ihrem Interview vor 16 Jahren. Eher mit einem optimistischeren Blick als ihr Mann auf das Leben „draußen“ sieht, sind sich beide einig, dass das Bühnenrund unter der Zirkuskuppel für ein paar Stunden der Ort ist, an dem die Menschen träumen und staunen können ‑darüber, was andere Menschen durch jahrelanges Training, Körperbeherrschung und stellenweise auch Überwindung der eigenen Angst schaffen…
Für den 40-jährigen Alain Alegria etwa. Der Sproß einer bekannten mexikanischen Artistenfamilie sagt: „Natürlich habe ich Angst, oder besser Respekt vor dem, was ich tue…Alles andere wäre dumm.“ Selber in der fünften Generation präsentiert Alegria hoch unter der Kuppel Gleichgewichtskunststücke auf dem Trapez mit Stühlen und Tüchern, wie sie von Vätern auf Söhne bzw von Onkeln auf Neffen weitergegeben und weiterausgebaut werden.
Nur, wie kommt man selbst mit dieser Erfahrung und der Artistik in den Genen so weit, ohne jede Absicherung waghalsige Kunststücke zu zeigen, die für atemlose Spannung sorgen? „Wir fangen am Boden an und legen den Abstand dann stückweise immer höher. Da arbeitet man noch mit Sicherung“. Die Königsklasse käme dann am Ende, wenn alles hundertprozentig sitze.
Welche Rolle spielen eigentlich Veranstaltungen wie das jährliche Zirkus-Festival in Monte Carlo. Alegria ist dort mit dem Goldenen Clown ausgezeichnet worden. Was bedeutet das Spielen und Auftreten dort und bei Auftritten wie in Gießen oder bald in Frankfurt?
„Das ist ja etwas ganz anderes: Hier freuen die Leute sich einfach, wenn wir kommen. Überhaupt, die Deutschen sind gleich ganz dabei. Sie sind ein tolles Publikum.“ Da sind sich sowohl Justin Case wie auch Alain Alegria einig. Aber: „Ich halte von solchen Festivals nicht viel. Es kommt immer wieder darauf an, ob Du gerade Glück hast, es ist ja wie eine Prüfung. Aber ob Du wirklich gut bist – wichtig ist das Publikum“, meint Fahrradartist Justin Case…während Trapezkünstler Alegria zumindest in dem Festival eine Chance sieht, dass man vielleicht noch etwas bekannter werden kann..Vielleicht liegt die unterschiedliche Sichtweise daran, dass Case für Zirkusverhältnisse erst relativ spät seine Liebe zum Zirkus entdeckt hatte: „Das war vor rund 30 Jahren, als ich in Barcelona einen Jongleur traf. Da habe ich Feuer gefangen.“ Auch wenn seine Eltern erst kritisch seinen Plänen gegenüber standen, habe er seinen Traum in die Tat umgesetzt. In Frankreich hatte er schließlich an der nationalen französischen Zirkusschule studiert.
Für Alegria dagegen war das Aufwachsen mit dem Zirkus ganz normal…So wie für die erst 22-jährige Spanierin Cristina Garcia. Sie zeigt Bilder auf ihrem Smartphone. Eine kleine Vier- oder Fünfjährige zeigt da voller Stolz ihre ersten Schritte im Spagat. Ihre Mutter sei selber Artistin, habe sie auf den Weg zur Kontorsionistin gebracht. Mit ihren 22 Jahren ist die Spanierin in der Welt des Varietes, der Galas und des Zirkus inzwischen das, was man einen alten Hasen nennt. Mit 16 Jahren hätten ihre ersten größeren Auftritte begonnen.
So international die Artistentruppe des Zirkus Flic Flac zusammengesetzt ist: Deutschland habe das Unternehmen bisher noch nie verlassen. Dafür gebe es genügend Anfragen. Die aktuelle Tour, die im März mit dem neuen Programm begonnen habe, sei eigentlich bis Ende 2018 schon fest, sagt Unternehmenssprecher Olli Hoffmüller. Zwar gäbe es Anfragen aus dem Ausland. „Einzelheiten verraten wir da jetzt aber noch nicht.“
Mit der aktuellen Tour, die neben Artisten wie Justin Case, Alain Alegria oder Cristina Garcia als neue Partner mit an Bord habe, gebe es auch Nummern, die seit Jahren zum festen Bestandteil der Show gehören: Die reine Zirkusnummer in der großen Stahlkugel mit hier in Gießen sieben bis acht Fahrern, die Freestyle-Jumper, die mit ihren Maschinen und Show-Nummern Bereiche aus dem Motorsport in die Zirkuswelt bringen oder die Truppe, die am Todesrad ebenfalls wieder für Nervenkitzel sorgt: Wenn sie auf einer eigenen FlicFlac-Anfertigung auf zwei gegenüberliegend angebrachten übermannsgroßen Rädern laufen und springen, während sich die Räder immer schneller um einen gemeinsamen Mittelpunkt drehen – und um sich selber ebenfalls…
Wer die Show in Gießen verpasst, kann sich die nächsten Termine gleich vormerken: Vom 1. Juni bis 18. Juni in Frankfurt.
Etwas mehr als zehn Minuten dauern die Eröffnung und das Motorrad-Rennen in der Stahlkugel:
Ganz im Gegensatz zur schnellen, aber genauso spannenenden Freestyle-Nummer, die den ersten Show- Teil abschließt:
„Au, mein Arsch.….“ mit deftigen Sprüchen und clownesker Artistik zeigt Justin Case, wie man mit großen Rädern fahren kann:
und auf einem Minifahrrad durch einen brennenden Reifen:
Sicher sind alle Nummern des zweiten Teils jede für sich eine besondere Klasse. Die balladeske Nummer des Duo Turkeev ragt zur Musik vom Tom Odells „Another Love“ darüber aber noch hinaus…
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