Liebe Mittelhessenblogleser: Im kommenden Jahr soll die volle berufliche Freizügigkeit auch für die osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU kommen. Spätestens ab 1. Mai 2011 soll die volle Freizügigkeit für alle EU-Bürger gelten, einzige Einschränkung: die sprachliche Eignung für eine Tätigkeit. Mit einiger Sorge beobachten diese diverse Branchen von der Altenpflege bis in den Baubereich und setzen deswegen umsomehr auf den gesetzlichen Mindestlohn als gesetzlichen Maßstab auch für die jetzt schon auf dem Markt tätige Konkurrenz. Beim Blick ins Textarchiv von CVG2000.DE, dem Vorgänger des Mittelhessenblogs, ist dabei eine Geschichte um zwei junge Zimmermannsgesellen ins Auge gefallen, die sich entschieden hatten, auf die Walz zu gehen, einem uralten, aus dem Mittelalter stammenden Brauch, praktische Berufserfahrungen zu sammeln, sich auf Menschen einzulassen und die hohe Kunst des Kompromisses zu lernen. Zum Thema Dumpingpreise hatten die beiden jungen Männer kurz vor der Einführung des Euro allerdings auch einiges zu sagen. In den Grundzügen hat sich im Laufe eines knappen Jahrzehnts die Lage nicht unbedingt gebessert. Um die Identität der beiden zu schützen, wurden die Namen geändert.
„Nächstes Jahr gehen wir auf eine Baustelle an die Elfenbeinküste“, freuen sich Uwe Strehlitz und Jens Stuckrath jetzt schon. Ihr Weg nach Aachen über Köln hat sie von Berlin nach Gießen geführt. Für einen kurzen Zwischenhalt. Bei den Normannen, dem Corps Normannia Halle zu Gießen. Die beiden 22-jährigen Zimmermannsgesellen aus Berlin wollten etwas von der Welt sehen und hatten sich vor rund einem Jahr entschlossen das zu tun, was Generationen von Handwerkern schon vor ihnen seit dem Mittelalter gemacht haben: Auf die Walz gehen, drei Jahre kreuz und quer durch die Welt ziehen, Erfahrung im Beruf sammeln, fremde Kulturen und Menschen kennen lernen.. Gemeinsam unterwegs sind sie seit Pfingsten, als sie sich auf Rügen getroffen hatten. „Wir hatten jemand nach Hause gebracht und noch zünftig gefeiert“. Dieser Jemand war ein Zunftgenosse, der nun nach dem Ende seiner Wanderschaft mit großem Hallo in seinen Heimatort geleitet wurde. Tatsächlich ein Grund zum Feiern: Denn während seiner Wanderschaft gab es nur einen Bannort: der Heimatort mit einem Gebiet im Umkreis von 50 Kilometern, das der Fahrende Geselle nicht betreten bedurfte.
Jens und Uwe hatten beide in Berlin gelernt, wohnen auch dort. Warum die beiden nach Abschluss ihrer Lehre nicht in Berlin geblieben sind? „Hier is doch nischt los, is doch allet tot“ , grummelt Uwe und macht seinem Ärger weiter Luft : „Ich bin richtig sauer auf den Staat. Anstatt einheimische Kräfte auf den Baustellen zu unterstützen, wird Dumpingpreispolitik betrieben.“ Sechs bis sieben Mark je Stunde bekommen polnische, portugiesische oder spanische Kollegen für ihre Arbeit, erzählt Uwe weiter. „Das ist in doppelter Hinsicht eine Sauerei. Unsere ausländischen Kollegen werden mit einem Hungerlohn abgespeist und einheimische Fachkräfte haben das Nachsehen“. Im Nordosten der Republik koste ein Geselle brutto 14 Mark je Stunde, im Raum Baden-Württemberg um die 26 Mark, gibt der junge Zimmermann Auskunft. „Davon gehen die ganzen Nebenkosten dann noch ab, für Krankenversicherung, Altersvorsorge und Arbeitslosenversicherung“, setzt er nach. Gegen die Löhne der ausländischen Kollegen „können wir nicht anstinken“. Aber das wäre auch gar nicht ihre Absicht. Als Fahrende Gesellen seien sie Mitglieder eines Schachtes, einer Bruderschaft. Die stammen aus dem Mittelalter, als sich die Zünfte formierten. Und diese seien die Vorläufer, quasi die Ahnen der heutigen Gewerkschaften. Deswegen komme es für sie nicht in Frage, andere Löhne als die tariflichen zu nehmen. Das Geld, das die Zwei so während ihrer Wanderschaft verdienen, fließt in den direkten Lebensunterhalt. „Wenn wir allerdings Privataufträge übernehmen, dann geht es gegen Kost und Logis und ein Taschengeld. Und Privataufträge kommen eigentlich nur dann vor, wenn wir auch etwas dabei lernen können“, setzt Uwe erklärend nach. Ihr Weg führt sie augenblicklich zu einer Baustelle in die Nähe Aachens.
Neugierig geworden? Mehr über Walzbrüder und Zunftwesen steht hier:
Agir Archiv zur Geschichte des individuellen Reisens
Die beiden jungen Handwerker haben sich den Freien Vogtländern angeschlossen. Auffallendes Kennzeichen der Vogtländer-Kluft: Die Hosenschläge haben die Form eines breiten V, und den Abschluss ihres Hemdkragens bildet nicht ein Schlips oder Halstuch, sondern ein goldenes Abzeichen. Es weist sie als Angehörige der Freien Vogtländer aus. Das Abzeichen findet sich auch auf dem Charlottenburger wieder, dem Bündel, in dem die Arbeitskluft und das Werkzeug transportiert werden. Die Kluft, die im Sommer wie im Winter getragen wird, besteht aus schwarzer Jacke, Weste und Hose sowie dem breitkrempigen Schlapphut und einem festen, weißen Hemd. Wie sie Hitze und Kälte aushalten? „Man gewöhnt sich dran“, meint Jens verlegen lächelnd. Am Anfang habe es ihm zu schaffen gemacht, besonders während der kalten Jahreszeit. „Keine Handschuhe, keinen zusätzlichen Mantel, keinen Schal, das war schon hart. Aber man gewöhnt sich dran. Ich habe gemerkt, wie ich immer unempfindlicher wurde, immer mehr abgehärtet. Erkältungen bleiben so gut wie aus“, hält Jens das Kältetraining für eine gute Erfahrung.
A propos Erfahrung. Diese seien nicht immer gut gewesen. Am meisten haben die zwei jungen Männer Angst davor, dass sie und ihre Mitbrüder mit sittenlosen Strolchen gleichgesetzt werden. „Früher war es weitaus üblicher, auf die Wanderschaft zu gehen und Erfahrungen in fremden Ländern zu sammeln. Heute dagegen sind vielleicht 600 insgesamt unterwegs, von uns Vogtländern vielleicht hundert. Und es gibt doch viele, denen wir erst mal suspekt sind. Erst im direkten Gespräch klären sich dann diverse Vorurteile. Ich möchte wetten, wenn irgendwer auf die Idee kommt und uns anhängt, wir seien finstere Gesellen, dann nimmt uns doch keiner mehr im Auto mit,“ befürchtet Jens. Und darauf sind die fahrenden Gesellen angewiesen. Zwar haben sie die Auflage, selbst kein Auto zu besitzen, keinen Reichtum anzuhäufen und auch nicht mit Handy auf die Walz zu gehen. Aber per Anhalter, das ist erlaubt. „Sonst ist man ja wirklich ewig unterwegs, um vorwärts zu kommen“ stellt Uwe fest.
Wann die Wanderschaft denn vorbei sei, will ich wissen. „Wann? Nach drei Jahren ist das offizielle Ende. So lange muss man mindestens unterwegs sein, wenn man denn auf die Walz geht. Aber wirklich Schluss?. Der ist wohl dann gekommen, wenn ich irgendwo ein Fleckchen Erde gefunden habe, an dem für mich alles stimmt, wo ich mich wohl fühle“, meint Uwe nachdenklich und Jens pflichtet ihm bei.
Aber fürs Erste sind beide froh, wenn sie nach Köln und weiter nach Aachen kommen. Gut versorgt sind sie. Dafür haben die Corpsstudenten des Corps Normannia Halle zu Gießen gesorgt, obwohl Studentenverbindungen und Zunftwesen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Auf den zweiten haben sie es doch: überliefert aus einer Zeit, als es darauf ankam, bei vollkommen fremden Menschen ein sicheres Dach über dem Kopf zu erhalten, diesen Menschen ohne Wenn und Aber volles Vertrauen schenken zu können. Und etwas anderes haben beide gemeinsam. Die Studentenverbindungen mehr, die Fahrenden Gesellen weniger: Sie sind in weiten Teilen einer höchst individualisierten Gesellschaft misstrauisch beäugt. überwindet sich der neugierige Außenstehende dann und sucht den Kontakt, bleibt hinterher nur die Erkenntnis: Von diesem Gemeinsinn und Zusammenhalt könnte sich mancher eine Scheibe abschneiden.
fat loss 4 idiots meint
Great story once again. Thanks a lot=)